Comeback nach fünf Jahren: Waßenbergs langer Weg zurück

Philipp Waßenberg war in der Jugend ein großes Talent in der Para Leichtathletik. Doch nach der WM 2015 zwangen ihn Probleme mit dem Stumpf zum Aufhören. Er konnte keine Sportprothese mehr tragen, der Paralympics-Traum von Rio platzte. Jetzt ist der einstige Dauer-Rivale von Weitsprung-Weltmeister Léon Schäfer nach fünf Jahren im Training beim TSV Bayer 04 Leverkusen zurück – und möchte beim Para Leichtathletik Heimspiel am Freitag in Leverkusen für neue Ziele arbeiten.

Philipp Waßenberg beim Sprint
Philipp Waßenberg Foto: Mika Volkmann
30. Juni 2022

Junioren-Weltmeister mit 15, zwei Jahre später Platz fünf bei seiner ersten Weltmeisterschaft in Doha: Philipp Waßenberg war in der Jugend zusammen mit Léon Schäfer, der ein Jahr älter und mittlerweile Weitsprung-Weltmeister ist, das größte Talent bei den oberschenkelamputierten Athleten. „Wir waren exakt auf einem Level“, erinnert sich der 24-Jährige: „Wenn ich bei einem Wettkampf zwei Zentimeter weiter gesprungen bin, war er beim nächsten Wettkampf knapp vorne, beim Sprint war es auch so. 2015 war dann das erste Jahr, in dem ich ein bisschen weiter gesprungen bin und er ist ein bisschen schneller gelaufen.“ Das Ziel der beiden Ausnahme-Könner: die Paralympics 2016 in Rio de Janeiro, um gegen ihr Idol Heinrich Popow anzutreten. Denn wie Schäfer fand auch Waßenberg den Weg zur Para Leichtathletik über den zweifachen Paralympics-Sieger. Als Popow 2012 Gold über 100 Meter in London holte, war Waßenberg mit dem Jugendlager des Behinderten- und Rehabilitationssportverband NRW in London und tauschte extra Tickets, um beim großen Moment im Stadion sein zu können.

„Meine Ärztin hat den Kontakt zu Heinrich hergestellt, da war ich acht Jahre alt und hatte meine Prothese genau eine Woche. Dann durfte ich zum ersten Mal nach Leverkusen kommen. Das war super, weil ich gemerkt habe: Du bist nicht alleine, du kannst auch nach der Erkrankung gut Sport machen. Später habe ich von Heinrich meine erste Sportprothese bekommen“, sagt der Fußball-Fan des 1. FC Köln: „Bei meinen ersten Talent Days in Leverkusen waren dann Vanessa Low, Markus Rehm und David Behre – wir haben alle gleichzeitig angefangen.“ Popow, Low, Rehm und Behre holten 2016 allesamt Paralympics-Gold, für Waßenberg platzte hingegen der große Traum von der Reise nach Brasilien.

Paralympics vor dem TV: „Es hat mich fertig gemacht“

Nach der WM in Doha bekam Waßenberg, dessen rechtes Bein im Alter von acht Jahren nach einer Krebserkrankung amputiert werden musste, Probleme mit seinem Stumpf. Die Schäfte, das Bindeglied zwischen Stumpf und Prothese, passten nicht mehr. „Der Stumpf ist dann angeschwollen, wurde abgedrückt, hat sich blau und lila gefärbt“, sagt der gebürtige Bonner: „Selbst im Alltag war ich eingeschränkt. Früher war es kein Problem, die Prothese den ganzen Tag von 7 bis 23 Uhr zu tragen. Das ging nicht mehr. Ich konnte die Prothese nur noch unter Schmerzen tragen und natürlich auch keinen Sport mehr machen.“ Vier neue Schäfte baute sein Orthopädietechnik-Mechaniker über ein Jahr hinweg, doch bei keinem wurde es besser – auch ein ganz neues Schaftsystem brachte keine Wende. „Viele Menschen sehen bei uns nur die Prothese und denken, dass es so leicht ist: Feder drunter und zack“, sagt Waßenberg und spielt damit auf die immer mal wieder geäußerte Sichtweise an, dass der Weitspringer mit Prothese dann von alleine fliege: „Aber dass wir unsere Prothese auch ausziehen müssen, den Stumpf abtrocknen, eincremen und alle zwei Wochen eine Haarwurzelentzündung haben, die das Ganze erschwert – das weiß kaum jemand. Wenn ich eine neue Prothese habe, brauche ich zwei bis drei Monate, um zu verstehen, was ich überhaupt machen muss, um abspringen zu können.“ Einen letzten Versuch wagte Waßenberg noch, doch spätestens bei der Junioren-WM 2016 in Prag wurde ihm klar, dass er es nicht nach Rio schaffen wird.

Die Stumpf-Problematik sorgte dafür, dass Waßenberg die Paralympics vor dem Fernseher verfolgen musste und sah, wie Schäfer mit 6,06 Metern auf großer Bühne Vierter wurde: „Das war ziemlich heftig für mich. Ich wollte 2016 bewusst alles von mir fernhalten und hätte für mein Leben gerne alles von den Paralympics angeschaut. Aber ich konnte nicht. Es hat mich fertig gemacht. Léon habe ich dann beim Weitsprung zugeguckt und mich auch echt für ihn gefreut. Aber es war gleichzeitig ärgerlich, weil ich gerne gewusst hätte, wie weit es für mich gegangen wäre.“ 2017 legte Waßenberg seinen Fokus auf das Abitur und fand darin die nötige Ablenkung, nicht an den Sport denken zu müssen. Doch nach den Prüfungen traf es ihn umso härter: „Nach dem Abi ist es mir sehr, sehr schwergefallen, zu verarbeiten, dass ich in Rio nicht dabei sein konnte.“

"Die Leidenschaft galt nach wie vor der Leichtathletik"

Das Ziel Paralympics verlor der 24-Jährige aus Alfter nie aus den Augen. Nach dem Abitur probierte er es mit Sitzvolleyball – wie damals, als er mit acht Jahren nach seiner Amputation den Weg nach Leverkusen fand und im ersten Jahr je einmal pro Woche Sitzvolleyball spielte, Schwimmen war und zur Leichtathletik ging. Der Vorteil am Sitzvolleyball: Er musste keine Prothese tragen. „Ich war auch schnell im Team und durfte zu Lehrgängen von der Nationalmannschaft. Aber direkt wieder Wettkampf, Wettkampf, Wettkampf – das war mir zu viel. Ich wollte das nur machen, um mich fit zu halten und die Leidenschaft galt nach wie vor der Leichtathletik.“

Denn die war nie aus Waßenbergs Kopf verschwunden. „Ich habe immer wieder meinen Eltern erzählt: Ich glaube, ich fange wieder an. Der Gedanke war immer da, der Wille auch. Aber ich habe Angst gehabt, zu weit weg zu sein und mich deshalb auch nicht so richtig getraut.“ Doch bei jedem Termin bei seinem Orthopädietechnik-Mechaniker Peter Ferger, der gleichzeitig auch Techniker der Para Leichtathletik Nationalmannschaft ist, wurde er an seinen eigentlichen Wunsch erinnert. „Peter hat immer gesagt: Komm, Philipp, wir schnallen die Sportprothese drunter. Und ich habe immer gesagt: Wir müssen ruhig machen und auf den Stumpf achten. Dann hatten wir einen neuen Schaft und uns war klar: Wenn das funktioniert, machen wir sie drunter.“ Im September 2021 – mehr als fünf Jahre nach seinem eigentlichen Aus – trat Waßenberg wieder auf eine Tartanbahn. „Das war bei einem Talenttag in Koblenz und ich dachte: Oh weia, vor den Kids mit der Sportprothese laufen. Anfangs war es ein bisschen wacklig, aber nach zehn Minuten war es krass. Vom Gefühl her hatte ich es nicht verlernt, auch wenn es aufwendiger und langsamer war und ich eine Woche Muskelkater hatte. Doch ich war zurück.“

Beim Heimspiel in Leverkusen soll die Bestmarke wackeln

Über die Prothesen-Gruppe von Sara Grädtke, bei der er in Leverkusen in der Jugend mit Helena Pietsch zusammen die ersten Schritte gemacht hatte, tastete er sich mit zwei Mal Training Ende des Jahres wieder ran. „Ich war so froh, dass ich wieder da war. Aber dann habe ich Irmgard Bensusan, Markus Rehm und Léon gesehen und dachte: Du willst nicht nur zwei Mal die Woche Fitness-Training machen. Wer einmal auf Wettkampf-Niveau trainiert hat, will das wieder.“

Im Februar meldete Grädtke ihn zu einem Weitsprung-Wettkampf in der Halle in Leverkusen an und ohne spezifisches Training und „mit einer durchgenudelten Sprintfeder“ sprang Waßenberg 4,65 Meter. „Für fünf Jahre nahezu ohne Sport war das echt cool und von Training zu Training wurde es immer besser“, sagt Waßenberg, der jetzt in der Gruppe der Top-Athlet*innen um Schäfer, Bensusan und Johannes Floors bei Erik Schneider trainiert: „Ich habe gemerkt, dass ich nicht so weit weg bin, zumal ich körperlich noch nicht ansatzweise auf dem Höhepunkt bin.“

Mit 5,69 Metern in Rhede sprang er sogar schon in die Nähe seiner einstigen Bestweite von 5,84 Metern, die damals die WM-Norm für Doha bedeuteten. Das war 2015 beim Integrativen Sportfest in Leverkusen und jetzt, sieben Jahre später, hätte Waßenberg nichts dagegen, wenn die Marke beim Para Leichtathletik Heimspiel als Sportfest-Nachfolger fallen würde: „Ich hätte schon richtig Bock, am Freitag einen rauszuhauen, dass da mindestens 5,84 Meter stehen. Im Training haben wir auch Weiten, die über Bestleistungen gehen und das Niveau sieht gut aus. Ich bringe jetzt immer stabil 5,50 Meter in die Grube, das war früher nicht so, da waren die 5,84 Meter eher eine Ausnahme. Das Jahr jetzt ist ohnehin eher zum Aufbau gedacht, mal gucken, wie es dann nächstes Jahr nach dem Winter aussieht.“

Léon Schäfer gibt ihm mittlerweile gute Tipps

Denn aus „entspannt reinkommen“ und darauf zu achten, dass der Stumpf nicht überbelastet wird, hat Waßenberg wieder ambitionierte Ziele entwickelt. „Früher hatte ich Lust auf Wettkämpfe, aber ich wusste auch die Freizeit zu schätzen. Jetzt opfere ich meine Zeit viel lieber für Training und Wettkämpfe, als unterwegs zu sein“, sagt Waßenberg, der sogar seine große Auto-Leidenschaft dem Leistungssport unterordnet. Als der auszubildende Kfz-Mechatroniker in diesem Jahr zum Para Leichtathletik Grand Prix in Nottwil fahren konnte, verzichtete er sogar auf das 24-Stunden-Rennen am Nürburgring, bei dem er im vergangenen Jahr noch als Mechaniker in der Box stand: „Ich bin nicht in die Trainingsgruppe von Erik gegangen, um nicht von irgendwelchen Wettkämpfen zu träumen. Ich möchte im nächsten Schritt sechs Meter springen und dann bei der WM in Paris im kommenden Jahr dabei sein. Dabei will ich es auch erstmal belassen. Vor drei Monaten hätte ich nicht ansatzweise gedacht, dass ich in solche Gegenden komme. Daher bin ich mit der Entwicklung sehr zufrieden.“

Auf seinem Weg kann er sich auch der Hilfe seines einstigen Rivalen sicher sein: „Als ich Léon wiedergesehen habe, hat er gemeint, es ist cool, dass ich wieder da bin. Damals waren wir befreundet, aber auch harte Konkurrenten. Jetzt bin ich froh, dass er deutlich weiter springt und mir echt gute Tipps gibt. Das macht das Ganze noch schöner, wenn man nach fünf Jahren wiederkommt und so aufgenommen wird.“

Quelle: Nico Feißt

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