Paralympisch leben

Max Marzillier: Aus dem Nichts in die Weltspitze

Ein geborener Mehrkämpfer ist Max Marzillier für seine Trainerin, doch spätestens seit seiner Fabelzeit von 49,02 Sekunden vergangene Woche ist klar: Die 400 Meter bieten ein großes Potenzial für den 20-Jährigen vom BPRSV aus Cottbus. Dabei hätte 2021 alles anders laufen können: Eine Blinddarmentzündung zog zwei Operationen nach sich und bedrohte die junge Karriere – die jetzt glücklicherweise doch Fahrt aufnimmt.
Max Marzillier: Aus dem Nichts in die Weltspitze
Max Marzillier Foto: Jörg Frischmann
15. Juni 2022

„Zieh, zieh, zieh, jaaaaaa, wohooooo!“ Wer sich die Tonspur der Zielgerade des 400-Meter-Laufs von Max Marzillier beim Para Leichtathletik Grand Prix in Paris anhört, spürt sofort, wie sehr es Mathias Schulze beim Anfeuern auf der Tribüne gepackt hat – und was sein Teamkollege vom BPRSV aus Cottbus Famoses geleistet hat, dass der Kugelstoß-Europameister von 2018 so ausflippt. Marzillier, 20 Jahre jung, hat mit 49,02 Sekunden nicht nur einen deutschen Rekord in seiner Klasse T13 der sehbehinderten Athleten aufgestellt, sondern sich auch auf Platz vier in der Weltrangliste katapultiert. Quasi aus dem Nichts – und doch irgendwie nicht so überraschend.

Nutznießer des Cottbuser Modells

Marzillier wurde 2016 mit 14 Jahren bei einem Sichtungswettkampf seiner Schule in Königs Wusterhausen von seiner heutigen Trainerin Margaryta Chukhrova entdeckt. Bis zur B-Jugend hatte er noch Fußball gespielt beim MSV Rüdersdorf in der Nähe von Berlin, „dann war Feierabend, weil ich fast nichts mehr gesehen habe. Wobei – gespielt habe ich da schon länger nicht mehr, ich bin ich eigentlich nur zwei Mal die Woche zum Training, um ein bisschen Sport zu machen.“ Die Zapfenstäbchendystrophie sorgte dafür, dass Marzillier zu jenem Zeitpunkt nur noch knapp zehn Prozent sehen konnte, was auch der Grund für seine Eltern war, ihn zur neunten Klasse vom Gymnasium auf die Förderschule für blinde und sehbehinderte Menschen schickten. Und nach dem Wettkampf sollte Marzillier, der nach eigener Aussage „nie eine Sportskanone oder der Fleißigste“ war, auch direkt weiter auf die Sportschule nach Cottbus, weil Chukhrova in ihm Talent sah: „Er war ein Allrounder, eigentlich ein geborener Mehrkämpfer, der sich in allen Disziplinen gut präsentieren konnte – dann habe ich ihn eingeladen.“

Nach einigem Zögern war für Marzillier klar, dass er die Chance nutzen möchte und so zog er 2017 nach Cottbus um: „Meine Eltern sagten, dass diese Möglichkeit vielleicht nicht mehr kommt und ich ja immer zurückwechseln könnte.“ Doch Marzillier fand sich gut zurecht, auch weil er mit der Paralympics-Zweiten Francés Herrmann und der aktuellen EM-Dritten Janne Engeleiter kompetente Ansprechpartnerinnen um sich rum hatte, die den Weg von der Sportschule in Cottbus bis zu den Paralympics erfolgreich gegangen sind. „Für mich hat sich das Cottbuser Modell sehr gut ausgezahlt: Die Anlagen, das Training, die Schule, das Internat – für mich war das einfach perfekt, weil es auch nicht so weit von zuhause entfernt war. Und durch Janne und Francés war es an der Schule nichts Neues, dass da jemand ist, der eine Behinderung hat“, sagt Marzillier, der mittlerweile in einer Ein-Zimmer-Wohnung am Sportzentrum lebt und in der Saisonvorbereitung neun bis zehn Mal pro Woche trainiert: „Für mich blüht das mit dem Nachwuchs in Cottbus jetzt erst so richtig auf.“

„Grenzt fast an ein Wunder“

Dabei verlief das vergangene Jahr ganz anders als geplant für Marzillier, für den es „toll gewesen wäre, in Tokio bei den Paralympics dabei zu sein“. Doch eine Blinddarmentzündung Mitte Juni machte alle Träume zunichte, schlimmer noch: Der Blinddarm war bereits geplatzt, „die Ärzte sagten, vier oder fünf Stunden später wäre es zu spät gewesen. Das ist krass, sowas zu hören.“ Drei Wochen später musste Marzillier erneut ins Krankenhaus, ein Abszess am Bauch muss operiert werden, „das hat mich dann wieder zurückgeworfen.“ In einer Woche nahm er zwölf Kilo ab, „was bei jemandem, der schmaler ist wie ich, noch doller reinknallt. Es klingt blöd, aber nach drei Schritten war meine Puste weg.“

Die Paralympics, das sagt Marzillier heute klar, „wurden durch die Umstände versaut, egal, ob es geklappt hätte oder nicht.“ Aber eigentlich blickt er lieber nach vorne, „denn bis Paris 2024 ist das Warten dieses Mal nicht so groß und ich habe genug Zeit, alles vorzubereiten, um dabei zu sein. Und ehrlich gesagt, ist es nach dem Rückschlag im vergangenen Jahr umso schöner, dass diese Saison alles so geil klappt. Das grenzt für mich fast an ein Wunder.“

Dabei waren schon die ersten Ergebnisse des Silbermedaillengewinners der Junioren-WM von 2019 im Weitsprung besser als erwartet. Denn zwei Wochen vor Paris hatte Marzillier in Nottwil beim Grand Prix schon Bestzeiten über 100 und 400 Meter aufgestellt. 50,24 Sekunden über 400 Meter frühmorgens um 9.30 Uhr waren gut. In Paris war Marzillier am ersten Tag die 100 Meter in 11,24 Sekunden gesprintet und hatte damit bewiesen, dass er in guter Form ist. „Ich war völlig überwältigt, als ich zum ersten Mal in das Stadion gekommen bin. Es ist definitiv das größte, in dem ich je starten durfte und ich hatte direkt ein tolles Gefühl auf der Bahn. Es hat Spaß gemacht und einfach alles gestimmt. Ich wollte die 400 Meter unter 50 Sekunden laufen – dass dann so eine Zeit rauskommt, ist das i-Tüpfelchen. Da habe weder ich noch sonst wer damit gerechnet, das kam aus dem Nichts.“

„Lieber der Jäger als der Gejagte“

Drei Tage später kann Marzillier die Zeit von 49,02 Sekunden immer noch nicht richtig fassen, aber er ist „dankbar, dass alles geklappt hat und ich weiß, dass ich mit Blick auf die nächsten zwei Jahre immer noch nicht fertig bin – es wäre schön, wenn es noch weiter geht und ich nächste Saison daran anknüpfen kann.“ Für diese hat er sein Soll mehr als erfüllt, aber wer weiß, was noch möglich ist.

Am kommenden Wochenende steht die Internationale Deutsche Meisterschaft in Regensburg auf dem Plan, zum Saisonende am 1. Juli in Leverkusen das Para Leichtathletik Heimspiel. Dort könnte Marzillier sich mit namhafter Konkurrenz messen: Der schnellste Mann ohne Beine, Johannes Floors, hat gemeldet, ebenso der marokkanische Paralympicssieger Ayoub Sadli, der in Paris Weltrekord in der Klasse T47 der Athleten mit einer Armbehinderung gelaufen ist: „Ich habe schon gerne zwei-drei Leute vor mir und bin lieber der Jäger als der Gejagte.“ Doch bei solch großen Namen wird Marzillier gleich wieder demütig: „Wenn ich gegen Johannes Floors laufe oder auch Marcel Böttger mit Alexander Kosenkow im Sprint – wenn man weiß, wo die schon waren – und ich darf mit denen zusammenstehen, dann ist das schon ein cooles Gefühl.“

Vorbilder hat er aber auch im olympischen Bereich. „Klar, für Usain Bolt bin ich auch nachts aufgestanden, um seine Läufe anzuschauen. Aber als ich mehr in die Materie bin, kamen auch Namen wie Michael Johnson oder Wade van Niekerk dazu. Und das Buch von Roger Black, der ja immer hinter Johnson Zweiter war, hat mich inspiriert – da waren viele schöne Tipps und Tricks drin, weil er ja auch 400-Meter-Läufer war.“

„Ein fleißiger und intelligenter Sportler“

Nicht nur für Trainerin Margaryta Chukhrova wird die weitere Entwicklung spannend, zumal Marzillier die Trainingsreize über 400 Meter besser verkraftet als früher im Weitsprung und sie selbst in ihrer Karriere noch nie eine so „kurze und intensive Saison“ erlebt hat, in der Korrekturen kaum möglich waren: „Aber er hat sich von Wettkampf zu Wettkampf enorm verbessert und schnell den Sprung in die Elite geschafft. Für den Moment freue ich mich und bin stolz auf ihn. Er ist ein sehr fleißiger und intelligenter Sportler, deshalb überlegt er schon weiter. Aber dann kommt es erst mal darauf an, auch mental in der Elite anzukommen.“

Und wenn Marzillier im kommenden Jahr nach Paris zurückkommt, wird er sich sicherlich zurückerinnern an seine 49,02 Sekunden. Denn 2023 ist die WM im gleichen Stadion wie der Grand Prix dieses Jahr, 2024 sind die Paralympics in der französischen Hauptstadt.

Paralympics, das wäre ein großer Traum, sagt der 20-Jährige. Dann vielleicht sogar eine Medaille zu holen, „da bin ich bescheiden, es wäre eine tolle Sache“, sagt Marzillier: „Aber alleine dabei zu sein wäre eine ganz, ganz große Sache.“ Vielleicht brüllt ihn dann auch wieder Kugelstoßer Mathias Schulze ins Ziel, denn seine Schreie und die der Cottbuser Delegation bleiben Marzillier im Kopf: „Ich gucke selbst gerne Wettkämpfe an. Wenn dann jemand wie Mathias mit Feuer und Flamme dabei ist und dich mit seinem Organ ins Ziel trägt, das ist ein wundervolles Gefühl, das ich nicht beschreiben kann. Ich finde es einfach schön, diesen Teamspirit.“