Paralympisch leben

Vom Freizeitsport in den Bergen zu den Paralympics

Para Radsport: Durch Zufall kam Kerstin Brachtendorf zum Para Radsport, ihre Trainingsgestaltung übernimmt sie selbst - mit Erfolg: Inzwischen ist Brachtendorf zweifache Weltmeisterin. Was noch fehlt: eine Paralympics-Medaille
Vom Freizeitsport in den Bergen zu den Paralympics
Kerstin Brachtendorf und Pierre Senska jubeln Arm in Arm über ihre Erfolge Foto: Oliver Kremer, sports.pixolli.com
08. Juni 2021

Kerstin Brachtendorf kam eher durch Zufall zum Para Radsport. In ihrer Freizeit fuhr die Grafikdesignerin Mountainbike, vor allem aufgrund ihrer Liebe zu den Alpen, und begann schließlich auch, an Wettkämpfen teilzunehmen, vor allem in Mountainbike-Marathons und mehrtägigen Etappenrennen. Inzwischen ist sie zweifache Weltmeisterin. Was noch fehlt: Eine Medaille bei den Paralympics.

Erfolge feierte Brachtendorf zuvor schon mit dem Mountainbike, gewann 2006 mit dem Cape Epic eines der berühmtesten Mountainbike-Etappenrennen und wurde 2007 Dritte der deutschen Mountainbike-Marathon-Meisterschaften. Auch auf dem Rennrad war und ist die 49-jährige Ettringerin aktiv. Sie hält weiterhin eine Elite-Lizenz und gewann im Jahr 2008 die siebentägige Tour Transalp.

Drei Jahre später startete Brachtendorf, die mit einem Klumpfuß geboren wurde, zum ersten Mal im Para Radsport in der Startklasse C5, der Zweiradkategorie der Sportlerinnen mit den leichtesten Einschränkungen und entsprechend hoher Leistungsdichte. Michael Teuber hatte den Kontakt zum Deutschen Behindertensportverband hergestellt – und bei der Bahn-WM im italienischen Montichiari wurde sie prompt Fünfte im Verfolgungsrennen.

2012 und 2016 gelang Kerstin Brachtendorf die Qualifikation für die Paralympics in London und Rio dabei, eine Medaille verpasste sie dabei beide Male knapp: „Ich hatte es bei Großevents oft, dass einfach die Nerven nicht mitgespielt haben. Da bin ich jetzt deutlich professioneller, aber das war tatsächlich etwas, womit ich am Anfang überhaupt nicht zurechtgekommen bin“, sagt Brachtendorf, die dem Paralympicskader des Deutschen Behindertensportverbandes angehört, rückblickend auf ihre bisherigen Teilnahmen an den Spielen. „Und letztlich geht es bei den Paralympics in der Wahrnehmung hauptsächlich um die Medaillen. Auch wenn ich mit meiner Leistung zufrieden war, war ich als Vierte oder Fünfte erstmal weg vom Fenster. Damit umzugehen, war schwierig. Beide Male hatte ich zunächst gedacht, ich höre jetzt auf. Und im Jahr danach bin ich dann jeweils Weltmeisterin geworden.“

Den Trainingsplan gestaltet sie selbst: „Ich trainiere auch heftig, aber mache das ganz viel nach Körpergefühl“

Brachtendorf hat über die Jahre gelernt, dass sie Druck von außen eher behindert als beflügelt. Dies ist auch der Grund, warum sie sich inzwischen selbst trainiert: „Das war dann allein schon dieser Druck, der vom Trainingsplan aufgebaut wurde, dass ich abends vorher schon gedacht hatte: Morgen steht dieses oder jenes an, was ist, wenn ich die Werte nicht schaffe… Da war jedes Training schon wie ein Wettkampf. Jetzt lege ich mir meinen eigenen Plan zurecht. Ich weiß im Großen und Ganzen, was ich zu tun habe, und ich trainiere auch heftig, aber ich mache das ganz viel nach Körpergefühl.“

Außerdem konzentriert sich Kerstin Brachtendorf jetzt ganz auf die Straßenwettbewerbe, nachdem sie in 2012 und 2016 auch auf der Radrennbahn angetreten war: „Auf der Bahn hätte ich nie eine Medaille geholt, das hat mich nur Nerven, Energie und Kraft gekostet und gab auch eine gewisse Enttäuschung. Ich bin immer Letzte oder Vorletzte geworden, auch wenn die Leistung gut war – das war für den Kopf frustrierend. Da habe ich dann für mich die Entscheidung getroffen, Qualität über Quantität zu setzen.“

Während der Zweiradsaison ist Brachtendorf zu Hause in Deutschland, im Trainingslager oder bei Wettkämpfen, aber auch oft in ihrer zweiten Heimat Italien, wo sie regelmäßig an Trainingsrennen im olympischen Radsport teilnimmt, um Rennhärte zu bekommen. Die Wintermonate hingegen verbringt sie regelmäßig auf den kanarischen Inseln. Nach vielen Jahren auf Gran Canaria, wo sie als Mountainbike-Guide arbeitete, schlägt sie ihre Zelte inzwischen auf Lanzarote auf und zeigt als Rennrad-Guide Touristen ihre „dritte Heimat“.

Die Trainingslager in den Bergen genießt sie ganz besonders und muss sich manchmal selbst am Riemen reißen, um wettkampfspezifisch zu trainieren: „Wenn es ums Zeitfahren geht, bringt es mir nichts, wenn ich jeden Tag 5-6 Stunden Alpenpässe fahre. Aber gerade diese Trainingslager in Livigno oder St. Moritz sind für mich auch Auftanken für den Kopf.“ Und gerade diese mentale Motivation hat Brachtendorf bei der WM 2019 im niederländischen Emmen erfolgreich eingesetzt. „Es war komplett flach dort. Dann habe ich mir aber immer bildlich vorgestellt, ich fahre jetzt am St. Moritzersee entlang und sehe rechts und links die Berge und habe dann tatsächlich zwei Medaillen geholt. Damit hätte ich nie gerechnet. Aber ich habe vorher in den Bergen Kraft getankt und dann mitgenommen.“

Das Ziel: Im Schatten des Fuji eine Paralympics-Medaille gewinnen

Im Hinblick auf die Straßen-WM in Cascais spürt Brachtendorf wie vor jedem Wettkampf eine gewisse Anspannung. Jetzt aber ist es auch der letzte Test vor den Paralympics und die letzte Möglichkeit, sich für eine Nominierung für Tokio zu empfehlen. „Andererseits sind wir auch froh um jeden Wettkampf, die meisten hatten halt ewig keine Wettkämpfe mehr. Nach so einer langen Pause wieder in den Wettkampfmodus zu kommen, ist nicht so einfach. Ich war in Italien im Trainingslager und bin dort Trainingsrennen gefahren, da bin ich sehr froh drum.“

Wenn sie für Tokio nominiert wird, ist das Ziel klar: Im Schatten des Fuji eine Medaille zu gewinnen. Jedoch versucht Brachtendorf bewusst, sich selbst nicht zu sehr unter Druck zu setzen: „Ich sage mir oft, es geht nur um Fahrradfahren. Die Menschen, die dich mögen, die mögen dich danach genauso. Die wünschen sich vielleicht eine Medaille, weil ich sie mir wünsche. Man muss sich immer wieder daran erinnern, das Leben geht weiter – mit oder ohne paralympische Medaille.“

Ob und wie lange sie nach den Paralympics weitermacht, weiß die 49-jährige noch nicht: „Ab einem gewissen Alter schaut man nicht mehr in einem Vierjahreszyklus. So lange mir der Sport Spaß macht und ich mitfahren kann, mache ich weiter. Ich will nur nicht irgendwann abgehalftert hinterherfahren. Entweder mache ich richtig Leistungssport oder halt einfach wieder Freizeitsport. Das Radfahren ist meine Passion, damit werde ich ja nie aufhören.“