Paralympisch leben

Vom Newcomer zum Titelaspiranten

Vom Newcomer zum Titelaspiranten
Foto: Tobias Vetter Oliver Kremer, sports.pixolli.com
30. Juli 2018

Para Radsport-Weltmeisterschaften: Überraschungs-Weltmeister Tobias Vetter ist ein Jahr nach seinem Triumph kein Unbekannter mehr – Zum Para Radsport kam der 36-Jährige durch einen Zufall, nun will er zu den Spielen nach Tokio 2020

Bereits ein knappes Jahr ist vergangen, seitdem Tobias Vetter die Para Radsport-Welt mit seinem überraschenden Sieg beim Straßenrennen der Weltmeisterschaften 2017 in Südafrika auf den Kopf stellte. Seinen Status als Newcomer ist er seitdem los. Und wie: Der 36-Jährige ist aus dem Fahrerfeld seiner Startklasse C4 nicht mehr wegzudenken und hat große Ziele für die anstehenden WM im italienischen Maniago vom 2. bis 5. August.

Ein hartes und umkämpftes Rennen nähert sich dem Ende. Die Favoriten bereiten sich im Führungsfeld auf den Zielsprint vor. Blick nach links, Blick nach rechts. Die Kontrahenten beäugen sich. Wer wird zuerst aus dem Sattel gehen? Zu einem ungewöhnlich frühen Zeitpunkt zieht der erste Fahrer aus der Gruppe das Tempo an. Nicht zu beachten? Falsch gedacht! Der Unbekannte gibt sich keine Blöße und fährt als Erster über die Ziellinie: Weltmeister. So geschehen beim Straßenrennen der Klassen C4/C5 bei der letztjährigen Para Radsport-WM in Südafrika. Das damals noch unbeschriebene Blatt: Tobias Vetter. 

„Das Rennen in Südafrika war für mich ein unvergessliches Erlebnis. Damals habe ich gedacht, bei einer WM unter die Top 10 zu kommen, wäre wahnsinnig toll. Dass dann letztendlich sogar der Titel dabei herausgesprungen ist, ist natürlich eine überragende Geschichte. Einen besseren Einstieg hätte es nicht geben können“, erinnert sich der Wahl-Münchner gerne an seinen bisher größten sportlichen Erfolg zurück.

Die Erfolgsaussichten für die anstehende WM vom 2. bis 5. August im italienischen Maniago schätzt er trotz seiner ansteigenden Formkurve in diesem Jahr realistisch ein: „Das Überraschungsmoment war damals sicherlich ein entscheidender Faktor für meinen Erfolg. Trotz meiner jüngsten Ergebnisse, mit Platz zwei beim Weltcup-Zeitfahren im niederländischen Emmen als Höhepunkt, bin ich mir bewusst, dass es bei der WM brutal schwer wird, den letztjährigen Erfolg zu wiederholen. Die anderen Fahrer kennen mich jetzt.“ Das sieht auch ein optimistischer Bundestrainer Patrick Kromer so: „Als amtierender Weltmeister wird er es nun schwerer haben. Auf ihn wird nun verstärkt geschaut. Nichtsdestotrotz bin ich überzeugt davon, dass er eine Top-Leistung abrufen kann.“

Trotz aller Bescheidenheit hat Tobias Vetter für die Weltmeisterschaft in Italien große Ziele. „Ich möchte es sowohl im Zeitfahren als auch im Straßenrennen auf das Podium schaffen. Man soll sich seine Ziele ja bekanntlich immer ein bisschen höherstecken. Außerdem habe ich meinen Trainingsaufwand merkbar gesteigert und bin fitter als noch im letzten Jahr.“

Der Traum von Tokio 2020 lebt: „Das wäre das Größte“

Nachdem der in Gera geborene Tobias Vetter bei der WM im letzten Jahr noch hauptsächlich im Straßenrennen glänzte, legt er bei der anstehenden WM den Fokus auf das Zeitfahren. Der Grund für diese Prioritätenverlagerung ist der Traum von seiner ersten Teilnahme an Paralympischen Spielen in zwei Jahren in Tokio. „Bei den Paralympics werden, wie auch bei den UCI-Wettkämpfen, verschiedene Startklassen zusammengelegt. Allerdings werden diese nicht wie bei den Weltcups und der WM getrennt voneinander gewertet, was zur Folge hat, dass weniger Medaillen vergeben werden“, erklärt der 36-Jährige. So wird Vetters Startklasse C4 in Tokio 2020 im Straßenrennen mit der Klasse C5 zusammengelegt. „Das bedeutet, dass ich dort auch gegen Fahrer mit einer geringeren Einschränkung fahren müsste, was natürlich die Erfolgschancen erheblich minimieren würde. Im Zeitfahren hingegen werden die Klassen auch in Tokio getrennt gewertet. Meine Chance auf einen Startplatz bei den Paralympics führt also in erster Linie über positive Ergebnisse im Zeitfahren.“

Sein Training widmet er somit nun überwiegend dem Fahren im Kampf gegen die Uhr. So auch im zweiwöchigen Höhentrainingslager mit der Para Radsport-Nationalmannschaft in St. Moritz, wo er sich gemeinsam mit den restlichen Fahrerinnen und Fahrern aus dem Team den letzten Feinschliff für das anstehende Event in Italien holte. Doch die Spiele in Tokio 2020 sind dabei immer im Hinterkopf. „Die Teilnahme an den Paralympics wäre das Größte, was ich im Sport erreichen könnte. Dort einmal dabei zu sein, ist mein größtes Ziel und mein größter Traum.“

Der Weg vom Hobby-Mountainbiker zum Para Leistungssportler

Noch vor zwei Jahren konnte der vorherige Freizeit-Mountainbiker nichts mit dem Begriff „Para Radsport“ anfangen. Sechs Jahre lang trat er regelmäßig in Hobby-Rennen gegen Sportler ohne Behinderung an und glänzte schon dort mit Platzierungen unter den Top 20. Das weckte den motivierten Sportlergeist erst so richtig. „Ich habe damals zufälligerweise bei einem Mountainbike-Rennen von meinem heutigen Teamkollegen Matthias Schindler erfahren und ihn sofort gegoogelt. Dass er Para Radsportler war, hat mich begeistert und letztlich auch inspiriert. So kam dann nach einem netten Treffen mit ihm eins zum anderen. Ohne seinen Einsatz wäre ich heute nicht dort, wo ich jetzt bin – und höchstwahrscheinlich kein Para Radsportler, geschweige denn Weltmeister. Dafür bin ich ihm sehr dankbar“, betont Vetter. Der ebenfalls 36-jährige Matthias Schindler gehört bei der WM in Maniago auch dem deutschen Kader an und startet in der Startklasse C3.

Die beiden Vereins- und Nationalmannschaftskollegen verstehen sich noch immer blendend und verbringen sowohl beim Training als auch bei den Rennen gerne Zeit miteinander. Das freut den aktuell führenden der UCI-Weltrangliste in seiner Startklasse ungemein. „Matthias ist ein super Typ und ich bin froh, dass er dabei ist.“ Da die Startklassen der beiden Para Radsportler und somit ihr Leistungsstand nicht allzu weit voneinander entfernt sind, gestalten sie auch Trainingseinheiten gerne gemeinsam.

Schwierige Kombination: Leistungssport, Familie und Vollzeitjob

Tobias Vetter ist Teil des „Top Team Tokio 2020“. Hierdurch wird er wie weitere ausgewählte Sportlerinnen und Sportler im Hinblick auf die Paralympics 2020 finanziell gefördert. Darüber ist der zweifache Familienvater sehr glücklich: „Da ich als Projektentwickler bei der Stadt München in Vollzeit tätig bin, ist es natürlich schwierig, alles unter einen Hut zu bekommen – Familie, Job und den Leistungssport. Die Förderung ermöglicht mir momentan, den unbezahlten Urlaub, den ich mir für das Training nehmen muss, finanziell aufzufangen. Gerade mit Blick auf Tokio 2020 bin ich natürlich auf diese Unterstützung angewiesen und hoffe sehr darauf, auch weiterhin dem Top Team anzugehören.“

Der bekennende Familienmensch wurde im Alter von 16 Jahren in einen Motorradunfall verwickelt. Die Folge: Einschränkungen an der linken Hand und des gleichseitigen Fußes. Nicht erst seither schöpft Tobias Vetter seine Energie aus seiner Familie. „Sie haben mich schon immer bei allem unterstützt, was ich machen wollte. Das ist auch aktuell so. Sie merken einfach, wie gut mir der Sport und die Gesellschaft mit den anderen Athletinnen und Athleten tut. Aus diesem Grund gestehen sie mir die fehlende Zeit zu. Nur dadurch ist das Leben, das ich so seit gut anderthalb Jahren führe, möglich.“

Nicht nur seine, sondern auch die deutsche Para Radsport-Familie sieht seiner Karriere positiv entgegen und hofft auf viele weitere erfolgreiche Wettkämpfe von Tobias Vetter – angefangen mit der Para Radsport-Weltmeisterschaft 2018 in Maniago.

Quelle: Niklas Klütsch