Paralympisch leben

Ottobock: Ganz nah am Athleten

Ottobock: Ganz nah am Athleten
14. April 2014

Das sind die goldenen, die unbezahlbaren Momente der Orthopädie-Techniker: Wenn ein unterschenkelamputierter Sprinter aus einem westafrikanischen Land in die Ottobock-Werkstatt kommt und vorsichtig fragt, ob er vielleicht eine besser Prothese bekommen könnte als seine.

Bei allen Paralympischen Spielen seit 1988 ist es vorgekommen, dass die Techniker dann erst einmal staunten, mit welch veralteter „Hardware“ der Sprinter bisher an den Start gegangen war. Die Unterschiede zwischen Europa und Schwarzafrika sind riesig – hier modernste Carbonfedern, dort Prothesen Marke Eigenbau. Doch Hautfarbe, Herkunft, Leistungsvermögen oder Medaillenchancen spielen keine Rolle. Vor dem offiziell „Service Provider“ genannten Unternehmen aus dem niedersächsischen Duderstadt sind bei den Paralympics alle gleich.

Ohne große Worte suchen die Orthopädie-Techniker dann eine Carbonprothese heraus und passen den Schaft in Handarbeit an. Denn wenn der Schaft nicht sitzt, bringt die beste Prothese nichts. Zurück bleiben Techniker, die eigentlich nur ihren Job gemacht, nämlich einen von mehreren tauschen Reparaturaufträgen bei Paralympischen Spielen erledigt haben.

Sie entlassen aber einen stolzen, glücklichen Athleten in den Wettkampf. Das museumsreife Stück, das lange Jahre seine Hilfe war, wird ihn nicht länger daran hindern, bessere Zeiten, Weiten, Resultate zu erzielen.

So oder ähnlich sind über die Jahre Freundschaften entstanden zwischen Techniker und Athlet – wie zwischen dem deutschen Goldsprinter Heinrich Popow und „seinem“ Techniker Tino Hartmann. Popow erzählt gern, wie er vor seinen Starts 2008 in Peking immer wieder Hartmann in der Werkstatt aufsuchte, um die Nervosität abzustreifen. Manchmal beschränkt sich die Zusammenarbeit eben nicht auf die beste Beschaffenheit der Prothese.

„Die Athleten aus allen Ländern haben bei Paralympics als erstes immer zwei Frage“, sagte Rüdiger Herzog, Redakteur in der Ottobock-Unternehmenskommunikation, „wo ist das Internetcafé und wo ist die Werkstatt. Für uns ist es völlig selbstverständlich geworden, dass die Athleten quasi gleich nach der Landung bei uns vorbeischauen. Wir sind ihr Dienstleister.“

Bei den Paralympics 2012 in London waren 78 Ottobock-Techniker aus elf Ländern im ständigen Einsatz; 2080 Reparaturaufträge galt es abzuarbeiten. 15.000 Ersatzteile lagen in den Werkstattcontainern bereit. Sie sind immer schon eine Woche vor Beginn der Spiele einsatzfähig – was vor allem für die Rollstuhlfahrer ein Segen ist. Kleine Einsätze am Gefährt machen den größten Anteil der Arbeiten aus.
Beim letzten Großeinsatz, den Winterspielen in Sotschi, bestand das Ottobock-Team zu einem Fünftel aus Russen; zwölf weitere Nationalitäten kamen hinzu. Die Athleten sollen in ihrer Sprache betreut werden. Als die Werkstätten in den beiden Sportlerdörfern öffneten, war sofort etwas zu tun: Beim Schlitteneishockey, seit 1994 olympisch, gibt es praktisch rund um die Uhr etwas zu schweißen. Und auch in Russland gab es wieder eine Athletin, die aus deutscher Sicht als paralympische Botschafterin taugte: Monoskifahrerin Anna Schaffelhuber mit ihren fünf Gold-Medaillen. Sie vergaß in einem Fernsehinterview nicht, sich auch bei Ottobock zu bedanken.

Dass im Eichsfeld nahe Göttingen ein „hidden champion“ am Werk ist, wissen ansonsten die wenigsten. Knapp eine Milliarde Euro hat die Firmengruppe mit ihren weltweit 7000 Mitarbeitern um den rührigen Inhaber und Vorstandsvorsitzenden Professor Hans Georg Näder im Geschäftsjahr 2012/2013 umgesetzt. Ottobock ist der innovative Weltmarktführer in einigen Feldern der Prothetik und Orthopädie. Fast 40 Millionen Euro pro Jahr fließen in Forschung und Entwicklung.

Den Athleten sind solche wirtschaftlichen Kennzahlen gleichgültig – sie kennen die „Böcke“ als zuverlässigen Dienstleister bei Paralympischen Spielen. Und für die Duderstädter könnte es eine bessere Werbung als die Dauerpräsenz alle zwei Jahre gar nicht geben. Über die Kosten des Paralympics-Engagements schweigt man lieber. Der Umsatz mit Prothesen für Spitzensportler macht nämlich nur einen Bruchteil des Konzernerlöses aus. Der Imagegewinn dürfte indes unbezahlbar sein: In London kamen Näder und Ottobock auf die Titelbilder großer britischer Tageszeitungen; die BBC berichtete mehrfach. In China wird die Marke seit dem Einsatz bei den Olympischen Spielen 2008 erst richtig wahrgenommen. Der Sport kann der Wirtschaft Türen öffnen, das wissen sie im Eichsfeld.

Was 1988 in einem kleinen Pavillon in Seoul mit vier Ottobock-Technikern von der Firmentochter in Australien begann und sich über die Meilensteine Barcelona 1992 und vor allem Peking 2008 entwickelte, ist zu einem schillernden Teil der Firmengeschichte geworden. Zwar haben die Duderstädter den Zuschlag für die Paralympics 2016 in Rio noch nicht erhalten, aber jeder in der Szene geht davon aus, dass sie auch in Brasilien wieder tausenden Athleten unterschiedlichster Herkunft zur Seite stehen werden - ohne einen Wettbewerbsvorteil für die Deutschen daraus abzuleiten. Nur einmal, in Vancouver 2010, war Ottobock nicht als technischer Dienstleister am Ort vertreten; ein Konsortium ansässiger Unternehmen versorgte die Sportler.

Für die Mitarbeitermotivation ist das paralympische Engagement Ottobocks übrigens unbezahlbar. Wer sich hier zum Orthopädietechniker ausbilden lässt, hat die paralympische  Perspektive schon unterschrieben.

 

Blick in die Werkstatt in Russland:



Erfahren Sie mehr über die sportlichen Botschafter von Otto Bock, unter ihnen Heinrich Popow.