Paralympisch leben

Mr. Paralympics

Mr. Paralympics
Foto: Dr. Karl Quade (re.) mit Verbandskollege Friedhelm Julius Beucher. Bild: Allianz/Ralf Kuckuck
11. August 2016

Niemand sonst aus dem deutschen Team verfügt bei den Paralympischen Spielen von Rio (7.-18. September) über derart viel Erfahrung: Dr. Karl Quade erlebt in Brasilien seine 14. Spiele – drei als Aktiver, die elften als Chef de Mission, die insgesamt neunten im Sommer. Der Spitzenfunktionär ist ein Mann der Praxis. Kein ‚Schreibtischtäter’. Seine Erfahrung kann für die Mannschaft des DBS erneut wertvoll sein.

Von solch einer Erfolgsbilanz als Chef de Mission kann Michael Vesper nur träumen: Dr. Karl Quade (61), selbst Paralympics-Sieger, hat sich als Chef de Mission der Deutschen Paralympischen Mannschaft bislang allein bei den Sommerspielen über 457 Medaillen freuen können – 117 mal Gold, 178 mal Silber und 162 mal Bronze. Natürlich ist Quade, Vizepräsident Leistungssport des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS), dienstälter als sein olympisches Pendant Vesper, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), der in Rio zum vierten Mal ein deutsches Team als Sportlicher Leiter zu den Olympischen Spielen begleitet hatte – zum dritten Mal zu Spielen im Sommer. Quade indes ist in Brasilien zum elften Mal Teamchef, fünfmal bei Winter- und sechsmal bei Sommer-Paralympics.

„All diese Zahlen waren mir gar nicht bewusst“, sagt der ehemalige Standvolleyballer und Kugelstoßer bescheiden, „nur so viel war mir klar: Ich habe mehr Paralympische Spiele live vor Ort miterlebt als verpasst“. Inklusive Rio wurde das größte Fest für Sportler mit Behinderung seit 1960 zum 26. Mal (im Sommer und Winter) ausgetragen – Quade erlebt seine 14. Spiele, dreimal war er als Aktiver angereist.  Er ist „glücklich und dankbar“, dass er auch sein berufliches Leben eng mit dem Leistungssport verbinden konnte, zunächst an der Deutschen Sporthochschule Köln, dann beim Bundesinstitut für Sportwissenschaft und beim Bundesministerium des Innern. Seine Fußdysmelie entspricht in ihrer Auswirkung einer Vorfußamputation. Sie ist angeboren. Doch sie hat den Ex-Leverkusener nie aufgehalten: Zu den insgesamt 1450 deutschen Medaillen bei den Sommer-Paralympics hat der mehrfache Deutsche Meister und frühere Volleyballcoach des TSV Bayer 04 eine goldene (1988 in Seoul) und eine silberne (1984 in New York) im Standvolleyball beigesteuert. 

Eine dritte Medaille blieb ihm verwehrt: Als er 1992 als Kugelstoßer nach Barcelona gereist war, wurde er vor Ort nicht ‚klassifiziert’, das heißt, Quades Behinderung wurde aus seiner Startklasse gestrichen – „ein einschneidendes Erlebnis für mich, im letzten Moment zu erfahren, dass ich nicht teilnehmen kann. Solch eine Erfahrung wünsche ich wirklich niemandem“. Was ihm blieb, war, sich in den Dienst der anderen Athletinnen und Athleten zu stellen, organisatorisch und wenn es sein musste – trotz der eigenen seelischen Schieflage in diesen Tagen – auch mental.

Dass er später als Spitzenfunktionär vehement darauf hingewirkt hat, dass sämtliche Klassifizierungen mittlerweile mit ausreichend Vorlaufzeit erfolgen, liegt freilich auch in der persönlichen Enttäuschung von 1992 begründet. „Über diese Änderung bin ich wirklich sehr froh“, sagt der promovierte Sportwissenschaftler und Bundesverdienstkreuzträger.  Es ist die nach wie vor vorhandene Nähe zum Sport, zu den Aktiven, die Quade derart prädestiniert, Teamchef zu sein. Der Sport bestimmt sein Leben. Selbst seine heutige Frau lernte er über ihn kennen – bei den Paralympics 1984 in New York: Die sechsfache Goldmedaillengewinnerin im Sprint und Weitsprung, Petra Quade, damals noch Buddelmeyer. 1988 in Seoul gewannen sie beide Gold – Petra sogar dreimal. Vor drei Jahren feierte das Paar Silberhochzeit. Gemeinsam kehrten die beiden bereits an mehrere Austragungsorte zurück – als Urlaubsziel. Seoul, Sydney, Atlanta, New York, demnächst irgendwann Barcelona – ihre ganz persönliche ‚Memory-Tour’.

Karl Quade ist fraglos der erfahrenste Zeitzeuge der deutschen Paralaympics-Historie – und voller Erlebnisse und Geschichten. Keiner war so lange so nah dran. Er hat Spiele miterlebt, bei denen Barrierefreiheit noch nicht selbstverständlich war. Nicht mal auf dem paralympischen Gelände – und schon gar nicht in den Städten. Seine ersten Paralympics als Teamchef in Atlanta 1996 waren „Hardcore – ein großer Schritt für mich. Sie waren eine organisatorische Katastrophe. Wir bekamen muffelige Armeedecken. Bettlaken und Bezüge gab es keine. Also haben wir alle miteinander Handtücher zusammengenäht.“ Vorgelebter Teamgeist. Die Sportler fühlen: „Der ist einer von uns.“

Lösungen hatte und hat Quade vor Ort immer parat. Heutzutage aber kann man von vielen Standards ausgehen. Unvorhergesehenes geschieht eher selten. Und wenn doch: Die Erfahrung macht’s. Quade hat ja genug mitgemacht. Eine persönliche Rangliste deutscher Highlights in seiner Ära als Chef de Mission von ihm zu bekommen, ist indes eine Mission Impossible. Zu groß ist sein Fundus: „So eine Aufzählung ist unmöglich – ich würde zwangsläufig unzähligen Teilnehmerinnen und Teilnehmern Unrecht tun, wenn ich sie unerwähnt ließe“, wiegelt er ab, „das kann und will ich nicht. Es gab so viele fantastische Leistungen und Momente“.

Also, bitte: Welche Spiele zählen zu seinen Favoriten? „Sydney und London – tolle Sportlerdörfer, tolle Atmosphäre, tolle Menschen. Besonders London war super. Wie die Spiele aufgenommen und begleitet wurden, das war für die Athleten natürlich ein Riesen-Hype. Die Kulisse, speziell im Leichtathletikstadion, war schon gewaltig, und dann haben unter anderem Heinrich Popow und Markus Rehm, die ja besonders im Fokus standen, auch noch Gold gewonnen. Es war zudem fantastisch, wie viele Menschen im Olympic Park Eintritt gezahlt haben, um dabei zu sein. Das habe ich vorher noch nie gesehen und war ein absoluter Höhepunkt.“ Von Sprung- und Sprintstar Popow und Fabelweitspringer Rehm verspricht sich Quade auch in Rio viel – nicht nur sportlich: „Bei den beiden sorgen neben der Leistung auch persönliche Ausstrahlung und Sendungsbewusstsein für große mediale Aufmerksamkeit.“

Der Behindertensport braucht nun mal Heroes. Und repräsentative Spiele. Wie in Sydney oder zuletzt eben in London. Auch Peking sei sehr beeindruckend gewesen, fügt Quade hinzu, „eine besondere kulturelle Erfahrung, auch weil sich die Menschen dort so viel Mühe gegeben haben.“ Ob Rio alles toppen kann? Müsse es gar nicht, sagt Quade relaxt. Worauf es letztlich ankomme: „Das Dorf muss okay sein, die Unterkünfte und Transportsysteme müssen passen, das Essen schmecken. Darum dreht es sich doch – und darum, keine Verletzungen im Team zu haben.“

Quade rechnet mit erbaulichen Zuschauerzahlen, die Tickets seien verhältnismäßig günstig. Und er glaubt an eine weitere erfolgreiche Mission, hält es mit seinem Verbandskollegen, DBS-Chef Friedhelm Julius Beucher, der erklärt hatte, man habe keine Medaillenvorgabe ausgegeben, aber große Hoffnungen und Erwartungen. 155 deutsche Athletinnen und Athleten sind in Rio am Start, 58 von ihnen erleben ihre Paralympics-Premiere. „Wir haben sehr viele Startplätze bekommen und sind zahlenmäßig an der Grenze“, verrät er, „wir wären auch mit weniger ausgekommen“. Insgesamt werden in Rio rund 4.350 Sportlerinnen und Sportler aus rund 180 Nationen erwartet, die in 22 Sportarten antreten. Triathlon und Kanu sind erstmals im Programm.

Zweimal war Karl Quade im Vorfeld in Rio. Einmal, um Teamchef-Debütanten anderer Länder wichtige Erfahrungen weiterzugeben. Insofern diente eigentlich nur die zweite Expedition zur Abklärung der Gegebenheiten vor Ort. „Auf Wetter und Klima haben wir eh keinen Einfluss“, sagt er, die Vorbereitung sei kein Hexenwerk, der 93köpfige Trainer-, Ärzte- und Betreuerstab bestmöglich aufgestellt. Die meisten Teilnehmer aus der Entourage der Sportler seien zudem keine Neulinge. Da spricht der Routinier. Gelassen, aber bestimmt.

Am 31. August startet das deutsche Team Richtung Rio. Bei der Rückkehr im September wird auch die persönliche Medaillenbilanz von ‚Mr. Paralympics’ noch einmal um einiges beneidenswerter sein.