Paralympisch leben

Bundesligaspieler Marcel zeigt jungen Fußballern Blindenfußball

Bundesligaspieler Marcel zeigt jungen Fußballern Blindenfußball
02. April 2015

„Vertrauen in Andere - und die eigenen Sinnesorgane“

Geschärfte Sinne, Logik und Mut: Blindenfußballer Marcel Heim verhilft staunenden Jugendlichen zu einer ‚Neuen Sporterfahrung’ und gewährt Einblicke in eine für die Kids ungewohnte Sportart. Der Bundesligaspieler bewirkt zusammen mit der Deutschen Telekom mehr Verständnis für und Respekt vor der Leistung von Menschen mit Behinderung. In Marktheidenfeld demonstrierte er große Ballfertigkeit und Schusspräzision – auch ohne Augenlicht.

Marcel Heim legt sich den Ball auf den Punkt. Ganz behutsam. Dann geht er zweieinhalb Schritte zurück, wartet auf den Pfiff des Schiedsrichters, nimmt kurz Anlauf und hämmert die Kugel genau ins rechte Dreieck. Der Torhüter hat keine Chance. Er kann nicht mal reagieren, so schnell geht das mit dem Strafstoß. So wuchtig und präzise ist Heims Geschoss. Später erklärt der Torschütze, das sei jetzt zwar ein besonders gelungener Schuss gewesen, aber kein Zufall. So was gelinge ihm schon öfters. Die Bestätigung gibt’s auf Youtube. Die Besonderheit, erläutert der 30-Jährige, sei sein Anlauf gewesen. Einen ruhenden Ball dann so gekonnt zu treffen, ist keine Selbstverständlichkeit, denn in diesem Fall könne er das Gehör nicht zu Hilfe nehmen. Der Ball macht keine Geräusche, wenn er nur so da liegt. Wird er gespielt oder rollt er, hört man die eingebaute Rassel. Geräusche, Laute, Kommandos und insofern das Gehör sind die Essenzen der Sportart, die der Wahl-Frankfurter betreibt. Marcel Heim spielt Blindenfußball.

Der gelernte Koch und heutige Informatiker des Dialog-Museums Frankfurt kann seit seinem 20. Lebensjahr aufgrund einer Augenerkrankung so gut wie nichts mehr sehen. Ein wenig hell, ein wenig dunkel – „es wäre übertrieben, zu behaupten, ich könne schemenhaft noch etwas erkennen. Ich mache einfach viel über die Logik“. Der Keeper, dem er da eben keine Chance gelassen hat, kann – natürlich – sehen. Die Torleute bilden die Ausnahme beim Blindenfußball. Marcel spielt für Würzburg in der Bundesliga. Dabei ist er ebenso auf seine anderen Sinnesorgane angewiesen wie im Alltag, in dem er sich mit Hilfe eines Stocks und seines Blindenhundes ausgezeichnet zurechtfindet. „Wir gehen dreimal am Tag zusammen spazieren – das trägt auch zu meiner Fitness bei“, verrät er. Neben dem Vereinstraining geht er zudem auch noch regelmäßig Joggen im Wald, zusammen mit einem Sehbehinderten, „das klappt gut. Man muss nur vertrauen in den Anderen haben. Und in seine Sinnesorgane“. 

An diesem Tag ist Marcel Heim für die Deutsche Telekom unterwegs im Spessart. Drei Übungseinheiten begleitet er im Rahmen der 2009 aus der Taufe gehobenen Aktion ‚Neue Sporterfahrung’ in Marktheidenfeld, nahe Würzburg. Seit September 2013 bringt die Deutsche Telekom mit ihrer Initiative Sportvereinen überall im Land auch Blindenfußball näher. Viele Jugendmannschaften bekamen nach einer Bewerbung auf der Website http://www.anstoss.telekom.com Besuch  von  speziell ausgebildeten Übungsleitern und Spielern der Blindenfußball-Bundesliga. Heute also macht die Kampagne an der Mittelschule Marktheidenfeld Station. Schülerinnen und Schüler aus der 5. und 6. Klasse sind mit von der Partie, dazu einige Jugendliche mit Behinderung – Inklusion ist ein wichtiges Thema für die Deutsche Telekom. In Einheit zwei machen dann Lehrerinnen und Lehrer erste Erfahrungen mit den Eigenheiten und Herausforderungen des Blindenfußballs, ehe die U15 des ortsansässigen Fußballklubs eine „ganz besondere Trainingseinheit“ (Zitat Marcel Heim) absolviert. Das Ziel des langfristig angelegten und sehr gut angenommenen Förderprojekts ist unter anderem, mehr gegenseitiges Verständnis und Respekt für Menschen mit Behinderung sowie wichtige Impulse für die Bildung sozialer Kompetenzen zu schaffen. Partner des Förderprojekts sind der Deutsche Fußball-Bund und der Deutsche Behindertensportverband (DFB und DBS).

Dass diese ‚Neue Sporterfahrung’ gleichzeitig jede Menge Spaß bringt, ist den Kids deutlich anzumerken. Und das nicht nur, weil sie mal nicht still sein müssen wie im Unterricht. Im Gegenteil: Nach der Einführung durch Marcel müssen sie sich lautstark bemerkbar machen, damit das auch klappt mit dem Dribbeln, dem Torschuss – und zuallererst natürlich mit der Orientierung. „Voy“, „Voy“ schallt es durch die Halle – das ist das aus dem Spanischen stammende Achtungssignal der Spieler, bevor sie aktiv in eine Aktion eingreifen und sich auf Ball oder Gegner zubewegen. Alle Spieler – bis auf die Torleute – tragen fette, schwarze Brillen, die sicherstellen, dass vollständig- und fast blinde sowie sehbehinderte Spieler wirklich gleichermaßen nichts sehen können. Gar nichts. Die Brillen sehen cool aus. Der Kopfschutz erinnert dagegen eher an die Miniaturausgabe einer Raumstation aus einem 70iger-Jahre-Science-Fiction. Ohne aber geht’s nicht. Zu gefährlich, sagt Marcel: „Der Kopfschutz ist Pflicht, weil es beim Blindenfußball naturgemäß „ganz schön zur Sache gehen und scheppern kann. Die Zweikämpfe sind viel körperbetonter als beim normalen Fußball, eher wie beim Eishockey.“

Später wird der 13-Jährige Joshua beeindruckt davon berichten, wie schwer es ist, den ‚Guide’ hinter dem gegnerischen Tor zu hören, wenn dieser etwa zu leise seine Orientierungskommandos gibt, oder den rasselnden Ball, der schwerer und kleiner ist als normale Fußbälle. „Alles nur nach Gehör, voll anstrengend!“ Lelio (10) findet, die ganze Aktion sei echt cool. Sein gelungenes Dribbling mit dem scheppernden Spielgerät während des Demonstrations-Matchs – „Zufall, wenn ich ehrlich bin“. Die vorsichtigen Einführungsübungen hätten schon etwas genutzt, aber dann richtig zu spielen, „mit Torwart, Guide, Gegenspielern, Banden und so“ – das ist dann doch noch mal „viel schwieriger“. Wie anspruchsvoll die Orientierung ohne Sehvermögen ist, erfahren die Kids erstmals am eigenen Leib. „Koordination, Konzentration und Aufmerksamkeit sind so hoch, dass sie nicht nur mit einer physischen Belastung vergleichen lassen – sie sind eine“, erklärt Marcel.

Blindenfußball ist Hochleistungssport. Und inzwischen auch eine paralympische Disziplin. Es gibt Welt- und Europameisterschaften. Die Bundesliga hat neun Teams. Bei der EM 2015 will sich die deutsche Nationalmannschaft, der Marcel inzwischen nicht mehr angehört, für die Paralympics 2016 in Rio de Janeiro qualifizieren. Eine schwere Aufgabe, denn nur die beiden Finalisten lösen das Ticket nach Rio. 2012 hätte Marcel es beinahe zu den Paralympics in London geschafft – als Sprinter. Dann stoppte ihn eine Verletzung. Diese Enttäuschung hat er hinter sich gelassen – „ich schaue immer nach vorne“, sagt er mit einem Grinsen. Seinen Ehrgeiz leitet er in seinen Job, sein Team in Würzburg – und in die Teilnahme an der ‚Neue Sporterfahrung’. Beim Abschlussgespräch mit den Kids und Lehrern berichtet er aus dem Alltag eines Nicht-Sehenden. Dann, am Ende, geht er schnurstracks auf die Banden der Deutschen Telekom zu und schraubt zusammen mit den anderen Betreuern eine nach der anderen ab, verpackt, schultert sie und bringt sie zum Transporter, der vor der Halle steht. Nur einmal muss er inne halten, um die sperrigen Teile durch den Hallenausgang zu manövrieren. Am Aktionsfahrzeug angekommen, reicht ein einziger Hinweis („Hier, Marcel, etwas links“), dann wird seine Ladung entgegengenommen und verstaut. Marcel lächelt, als spüre er die staunenden Blicke der Kinder und Lehrer, die auf ihn gerichtet sind. „Man kann gut zurechtkommen“, sagt er, „man muss es nur wollen“.

Quelle: Medienmannschaft
Bildquelle: Christian Schwab