WM

Das Küken überrascht mit Laufbestzeit und Platz drei

Unbekümmert umkurvt Anna-Maria Rieder im Slalom Stange um Stange, fährt voll auf Angriff. Von Nervosität keine Spur. Im Ziel kurze Freude über einen starkes Rennen. Der Jubel wird wenige Minuten später freilich größer. Dann steht fest, dass Anna-Maria Rieder Bronze gewonnen hat, mit Bestzeit im zweiten Lauf – und das bei ihrer WM-Premiere bei den alpinen Ski-Titelkämpfen von Sportlern mit Behinderung im italienischen Tarvisio. Rieder, die am Donnerstag erst ihren 17. Geburtstag feierte, gehört zusammen mit Monoskifahrerin Ruth Hagspiel und der sehbehinderten Noemi Ristau zu den drei neuen Gesichtern des deutschen Nationalteams bei den Weltmeisterschaften, bei denen Deutschland mit 14 Medaillen die stärkste Nation war.

Autor: Wilhelm Seibert
4 Minuten Lesezeit veröffentlicht am 03. Februar 2017

Zwei der Medaillen sammelten überraschend die Newcomerinnen. Neben Anna-Maria Rieder holte auch Noemi Ristau (SF/BG Marburg) Bronze, gemeinsam mit ihrem Guide Lucien Gerkau. Die 25-Jährige ist sehbehindert und stürzt sich dennoch den Hang hinab. Nur eben mit Unterstützung eines Guides, der auf der Piste mit einigen Metern Abstand vor ihr fährt und durch lautstarke Kommandos bei der Orientierung hilft. Bis zum 15. Lebensjahr konnte Noemi Ristau normal sehen. „Dann ging es innerhalb von drei Jahren auf fünf Prozent zurück und es wurde mit der Zeit noch etwas schlechter“, berichtet die Marburgerin. Rund zwei Prozent beträgt ihre Sehkraft nur noch.

Erst Blindenfußball, dann die Skier an die Füße geschnallt


Anfangs spielte Ristau Blindenfußball, hat sogar an einem internationalen Turnier in Deutschland teilgenommen. Das ist nun gut sieben Jahre her. „Ich habe den Spaß daran verloren und aufgehört“, sagt sie. Als sie noch sehen konnte, war die 25-Jährige immer mal wieder auf Skiern unterwegs. Vor einigen Jahren probierte sie es wieder aus – und nun durfte sie nicht nur mit zur WM, sondern gewann auch noch Bronze im Slalom. „Das ist ein geiles Gefühl. Ich habe viel trainiert und mich deutlich verbessert“, jubelte Ristau direkt nach dem Rennen.

Dabei fährt sie erst seit wenigen Jahren Rennen – und absolviert neben dem Sport noch eine Ausbildung zur Ergotherapeutin. Diese ist nicht extra für Blinde und Sehbehinderte. „Der Beruf macht mir sehr viel Spaß. Daher kämpfe ich mich durch und lasse mir nur ab und an helfen, in dem mir jemand den Unterrichtsstoff digitalisiert. Ich möchte so gut es geht selbstständig sein“, sagt Noemi Ristau. Im Sommer will sie unbedingt ihr Examen schaffen. Denn die Nachprüfung wäre im Januar 2018. Kein guter Zeitpunkt. „Ich konnte ja nicht wissen, dass sich das Skifahren so gut entwickelt“, sagt die Marburgerin mit einem Schmunzeln und betont: „Natürlich möchte ich gerne zu den Paralympics nach PyeongChang.“

Diesen Traum hat auch Anna-Maria Rieder (RSV Murnau). Bereits einen Tag nach dem Gewinn der Bronzemedaille war die 17-Jährige aus Oberammergau wieder in der Schule. „Es haben ziemlich viele verfolgt und mir gratuliert“, freut sie sich. Schied sie im Riesenslalom noch im ersten Durchgang aus, zeigte sie im Slalom zwei starke Läufe und war im zweiten sogar schneller unterwegs als die Favoritinnen Andrea Rothfuss und Marie Bochet, die die Startklasse Damen stehend seit Jahren dominieren. „Voll cool, ich hätte nicht gedacht, dass ich das schaffe“, sagt das Küken des deutschen Teams. Die Ausgangsposition mit Rang vier sei genau richtig gewesen. „Ich habe mir dadurch nicht so viel Druck gemacht und der Lauf hat gut gepasst.“ So gut, dass Laufbestzeit und Bronze heraussprangen.

Schneller als gewöhnlich war Anna-Maria Rieder auch auf der Welt. Frühgeburt, bereits nach der 25. Woche – dreieinhalb Monate zu früh. Anfangs war es ein Kampf ums Überleben. Doch diesen Kampf hat Anna-Maria gemeinsam mit ihren Eltern Marion und Max gewonnen. Heute ist ihre linke Seite gelähmt, eine sogenannte Hemiparese. Auf der Piste erkennt man es nahezu nur, weil sie links keinen Skistock in der Hand hält.

Die Oberammergauerin steht bereits früh auf Skiern, fährt schon mit vier Jahren ihre ersten Rennen. Mit der Leidenschaft ist sie wohl von ihren Eltern, einer Skilehrerin und einem Trainingswissenschaftler, angesteckt worden, die ihre talentierte Tochter nun betreuen. „Inzwischen trainiere ich nahezu täglich“, berichtet die Schülerin, die gerne noch mehr solcher Ereignisse wie die WM erleben möchte. „Das hat mir schon sehr gut gefallen“, sagt Anna-Maria Rieder und lacht.

Nach einem Sturz beim Slopestyle ist Ruth Hagspiel querschnittgelähmt


Der dritte Neuling ist Ruth Hagspiel (TV Kempten). Die 25-Jährige aus Kempten lernte schon in jungen Jahren das Skifahren und entdeckte mit der Zeit ihre Vorliebe für Slopestyle, einer Art Hindernisparcours für Skifahrer. 2014 war die Sportart in Sotschi erstmals olympisch. Doch für die talentierte Ruth Hagspiel war bereits im Dezember 2009 bei einem Skiunfall Schluss. Bei einem Rückwärts-Salto stürzte sie schwer, seitdem ist sie querschnittgelähmt. Mit dem Skifahren wollte die Allgäuerin dennoch nicht aufhören und probierte es einige Monate später wieder aus – nur eben im Sitzen auf einem Monoskigerät.

„Die ersten Tage waren zum Vergessen“, erinnert sich Hagspiel, „ich musste komplett wieder bei null anfangen“. Doch sie gab nicht auf, verbesserte sich, zunächst mühsam, dann ging es immer weiter bergauf. „Es hat sich wieder richtig gut angefühlt und Spaß gemacht, auch wenn es einfach Zeit brauchte“, erzählt die 25-Jährige. Gut sieben Jahre nach dem Unfall feierte sie nun ihre WM-Premiere. Bei ihren beiden Starts wurde sie im Riesenslalom Siebte und schied im Slalom aus. „Es war trotzdem ein cooles Erlebnis. Mein Ziel war es, bei dieser WM dabei zu sein, und das habe ich geschafft“, betont Ruth Hagspiel und ergänzt: „Ich hätte gedacht, dass ich noch nervöser sein werde. Vor meinem ersten Weltcup habe im am Start die Krise bekommen“, schmunzelt sie.

Nun hat die Studentin weitere Ziele. Dafür hat sie auch ihr Studium zurückgesteckt. „Ich investiere viel ins Skifahren: Zeit, Geduld, Nerven. Und ich werde weiterhin ganz viel trainieren“, betont die Monoskifahrerin vom TV Kempten. Die Paralympics in Sotschi verfolgte sie vor dem Bildschirm. Das Vorhaben war schon damals klar: „Beim nächsten Mal will ich dabei sein“, sagt Ruth Hagspiel und fügt mit Blick auf die Spiele 2018 zwinkernd hinzu: „Nach Südkorea wollte ich schon immer mal.“