News

Knoten im Kopf

Tagesspiegel-Autorin und Para Leichtathletin Maria Tietze hat im Trainingslager schon die anstehenden Paralympics im Blick.
Knoten im Kopf
Foto: © Binh Truong / DBS
16. April 2021

Der erste April ist vorbei gegangen, ohne dass morgens mein Alltagsfuß verkehrt herum an meine Prothese geschraubt war. Im Winter wurde mir dieser kleine Scherz angedroht, also schlief ich nur mit einem Auge. Am Morgen konnte ich das Schlafzimmer ganz normal verlassen. Auf der Hut musste ich aber bleiben, denn so zwei Schräubchen sind schnell verstellt. Wenn der Fuß auch nur ein, zwei Grad verdreht ist, geht es sich ziemlich unrund und bereits der Weg in die Küche wird etwas weiter. Mein Techniker allerdings würde sich biegen vor lachen, wenn man mich so in den April geschickt hätte. Merke: Ersatzteile bieten viel Raum für Scherze.

Freunde, mit denen ich häufiger campen gehe, hätten auch sehr gern, dass ich mir einen Flaschenöffner in den Schaft bauen lasse. Dann wäre mein Bein auch was für die wichtigen Dinge des Lebens. Zugegeben, unterwegs müsste man nicht darauf achten, nur Getränke mit Schraubverschluss zu kaufen. Noch war mir dieser Mehrwert aber nicht groß genug. Vielleicht nach dem Sport.

Hier befinden wir uns gerade in einer heißen Trainingsphase. In einigen Wochen sollen die Freiluftwettkämpfe beginnen und die Paralympics rücken damit sehr viel näher. Für die bestmögliche Vorbereitung fahren Trainer:innen und Athlet:innen gern in Trainingslager. Denn sie bieten diverse Vorteile. Als Athlet:in lässt man den Alltag zu Hause. Es gibt keine Pendelei zwischen der Wohnung und der Sportstätte, Engelchen und Teufelchen flüstern nicht abwechselnd: „Putz doch noch schnell dein Bad, dann sieht es wieder schön aus.“ Und „Nein, hör nicht auf den Blondschopf, leg dich auf's Sofa und entspanne für die nächste Einheit in zwei Stunden.“ So viel auch in die Reisetasche passt, diese beiden Quälgeister bleiben zu Hause.

Man begibt sich für zwei Wochen in eine andere Routine: Schlafen, essen, trainieren, schlafen Der Fokus liegt noch mehr auf dem Sport, und so ist eine deutlich gezieltere und bessere Vorbereitung möglich. Mein Wecker klingelt morgens um 7 Uhr und holt mich relativ sanft aus dem Schlaf. Ab ins Bad und auf dem Weg dahin beim Blick aus dem Fenster von der Morgensonne kitzeln lassen. Bis zum Frühstück sind es nur ein paar Schritte und die schwerste Entscheidung ist, welche Teesorte am besten zum Müsli passt. Denn das Buffet wartet mit allen Köstlichkeiten und lässt keine Wünsche offen. Was ich heute nicht essen kann, gibt's morgen. Das Schöne auch, bis das erste Training des Tages beginnt, kann ich richtig trödeln und den Tag langsam auf mich zukommen lassen. Schließlich sind es nur 300 Meter bis auf die Tartanbahn. Um 9 Uhr geht's los. Das erste Mal an diesem Tag so richtig bewegen und auf die Sportprothese wechseln. Es tut gut, mal andere Bäume beim Warmlaufen zu sehen und nicht jeden Meter schon vorher zu kennen. Die frische Luft hat die Lebensgeister geweckt und das Dehnen sowie Stabilitätsübungen gehen leicht von der Hand. Die Basis für den Tag ist gelegt.

An einem Morgen liegt der Fokus auf koordinativen Übungen mit dem Sprungseil. Was als kleines Mädchen reiner Spaß war, ist mit über 30 plötzlich harte Arbeit. Wo ist nur die Einfachheit geblieben? Vermutlich in den 20 Jahren nach der Kindheit, in der man so schön verkopft. Um die Knoten in Armen, Beinen und im Kopf zu lösen folgen noch einige lockere Steigerungen und ich mache einen Strich unter Training Nummer eins. Jetzt kann ich kurz duschen und suche dann unsere Physiotherapeutin auf. Sie sorgt jeden Tag dafür, dass die Spannung in der Muskulatur nicht zu hoch wird und nichts kaputt geht. Gemeinsam gehen wir Mittag essen, setzten uns danach mit der Gruppe und gehörig Abstand auf ein Heißgetränk zusammen und lassen gemeinsam die Seele baumeln. Aber nicht zu lange, denn die zweite Einheit ruft.

Dieses Mal werden die Schuhe für schnelle Läufe geschnürt. Zwei Stunden später ist auch das geschafft. Nach dem Abendessen und der Frage: „Dessert oder kein Dessert?“, klingt der Tag mit einem Besuch der Sauna aus. Ein Luxus, den wir uns lange nicht mehr gönnen konnten. Selbstverständlich nur unter Einhaltung der geltenden Schutzkonzepte.

Ich schätze mich glücklich, diese Privilegien genießen zu dürfen. All das resultiert darin, mehr und/oder intensivere Einheiten abspulen zu können als das zu Hause möglich wäre. In zwei Wochen Trainingslager schafft man einfach mehr für den Körper als in zwei Wochen Heimtraining. Auf der Hut vor Scherz-Schraubern muss man jedoch auch in der Mannschaft sein.

Quelle: Maria Tietze / Tagesspiegel