Zika-Virus, Transport-Chaos, Kriminalität, leere Ränge, schleppender Ticketverkauf und schlechte Zustände im Olympischen Dorf – die Liste an negativen Punkten war lang, bevor sich die Deutsche Paralympische Mannschaft auf den Weg nach Brasilien machte. Hinzu kamen die finanziellen Nöte des Gastgebers, so dass der Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC), Sir Philip Craven, nicht ohne Gründe von den schwierigsten Umständen in der 56-jährigen Historie der Paralympics gesprochen hatte. Doch die zuvor betitelten „Krisenspiele von Rio de Janeiro“ entpuppten sich stattdessen als eine der größten Überraschungen in der IPC-Geschichte.
Es kam zu einem Wandel, mit dem kaum jemand gerechnet hatte. Ein Stimmungsumschwung, den die rund 4350 Athletinnen und Athleten aus über 160 Nationen schon bei ihrer Ankunft im Dorf und spätestens bei der emotionalen Eröffnungsfeier im Estádio do Maracanã hautnah zu spüren bekommen hatten. Die Brasilianer hatten richtig Lust auf das drittgrößte Sportevent der Welt. Eine ganze Stadt fieberte mit den Sportlerinnen und Sportlern – und die Cariocas, so werden die Einwohner Rio de Janeiros genannt, pilgerten zu Hunderttausenden in die Wettkampfstätten. Lautstark, leidenschaftlich und stimmungsvoll. Von all den Negativschlagzeilen im Vorfeld war vor Ort kaum etwas geblieben.
„Wir sind durchaus mit Sorgenfalten nach Rio gereist – doch mit Lobeshymnen zurückgekehrt. Es waren die Spiele des Volkes. Die sportbegeisterten Brasilianerinnen und Brasilianer haben die Arenen in Hexenkessel verwandelt“, blickt Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes, zurück. Die Tickets – endlich bezahlbar. Die Atmosphäre – ausgelassen, fröhlich, durchaus temperamentvoll, aber fair. Brasilianisch eben. Die Lautstärke beispielsweise im Aquatics Stadium, sie musste sich im Vergleich zu London vor vier Jahren keineswegs verstecken. London 2012 – noch immer der Inbegriff für die perfekten Spiele. Dass dieses Ereignis nicht so schnell zu toppen ist, war im Vorfeld klar. „Doch was Rio aus den Paralympics angesichts seiner Möglichkeiten gemacht hat, ist eine Wahnsinns-Leistung“, betont Beucher. Es waren die Spiele, die man sich damals nach der Verkündung vorgestellt hatte, die man sich gewünscht hatte. Doch die nach den Entwicklungen in der jüngeren Vergangenheit niemand mehr erwartet hatte.
Zum einen hat Rio aus Olympia gelernt. Organisatorisch hat sehr vieles besser geklappt als wenige Wochen zuvor. „Wenn wir mit einem Augenzwinkern davon sprechen, dass Olympia die Generalprobe für die Paralympics ist, dann ist das mit Blick auf die Abläufe vor Ort nicht aus der Luft gegriffen. Vieles hat sich bereits eingespielt, wenn wir anreisen“, erklärt Beucher. Und die guten Bedingungen sowie die begeisterte Stimmung trieben die Athletinnen und Athleten mit Behinderung zu neuen Höchstleistungen – auch die der Deutschen Paralympischen Mannschaft. 18 Mal Gold, 25 Mal Silber und 14 Mal Bronze bedeuteten Platz sechs in der Nationenwertung. „Damit zählen wir weiter zu den Top-Nationen, das war unser Ziel“, sagt der DBS-Präsident.
Besonders erfolgreich waren die Teams der Leichtathleten und der Radsportler, die 40 der insgesamt 57 deutschen Medaillen ergatterten, davon 17 der 18 Goldmedaillen. Ebenfalls ganz nach oben aufs Treppchen schaffte es Triathlet Martin Schulz – ein historischer Sieg, schließlich zählte Triathlon erstmals zum Programm der Paralympics. Doppel-Gold errangen Markus Rehm im Weitsprung und mit der 4x100 Meter-Staffel sowie Hans-Peter Durst im Zeitfahren sowie im Straßenrennen, Kugelstoßerin Franziska Liebhardt und Weitspringerin Vanessa Low siegten mit Weltrekord und Sprinter David Behre freute sich über sein persönliches „Trio de Janeiro“ – und zwar den kompletten Medaillensatz mit Gold, Silber und Bronze. Kugelstoßer Niko Kappel gewann mit nur einem Zentimeter Vorsprung und Sebastian Dietz machte seiner langjährigen Freundin nach seinem Paralympics-Gold einen Heiratsantrag – mitten im Deutschen Haus am Strand von Barra. Die Spiele in Rio haben wieder vielfältige Geschichten geschrieben.
Natürlich gab es neben Jubel und Freude auch einige Enttäuschungen. Schwimmerin Verena Schott, Reiterin Elke Philipp und Radsportler Erich Winkler schrammten als Doppel-Vierte gleich zweimal haarscharf am Podium vorbei. Überhaupt verpassten die Deutschen die Medaillenränge in vielen Fällen hauchdünn auf dem undankbaren vierten Platz, so dass am Ende neunmal weniger Edelmetall heraussprang als vor vier Jahren in London. Darüber hinaus fehlten beispielsweise den Kanuten Edina Müller und Tom Kierey nur elf bzw. neun Hundertstel zu Gold, bei David Behre waren es drei und bei Sprinterin Irmgard Bensusan sogar nur zwei Hundertstel. So waren es auch die Spiele der knappen Entscheidungen.
Dennoch spricht Dr. Karl Quade, Vizepräsident Leistungssport und zum elften Mal Chef de Mission des deutschen Teams, von einer „richtig guten Bilanz. Wir haben in zehn von 17 Sportarten, in denen wir uns qualifiziert haben, Medaillen gewonnen. Das ist eine starke Bilanz und zeigt, dass unser Nominierungsverfahren greift. Wenn ich mir die vielen guten Platzierungen außerhalb der Medaillenränge anschaue, dann verdeutlicht das, dass wir in der Breite sehr gut aufgestellt sind.“ Vor der Zukunft müsse man sich auch deswegen nicht Bange machen, weil auch viele junge Athletinnen und Athleten gute Leistungen gezeigt und vordere Platzierungen erreicht hätten. „An ihnen werden wir in den kommenden Jahren viel Spaß haben. Wir sind gut gerüstet“, betont Quade. So holte im Tischtennis das Trio Stephanie Grebe (29), Thomas Schmidberger (24) und Valentin Baus (20) Silber, in der Leichtathletik jubelte Felix Streng (21) neben Staffel-Gold noch über zweimal Bronze bei seiner Paralympics-Premiere, Judoka Nikolai Kornhaß (23) überzeugte beim Debüt mit Platz drei und die Schwimmerinnen Denise Grahl (23) und Maike Naomi Schnittger (22) freuten sich ebenso über Silber wie die deutschen Reiter mit einem stark verjüngten Team.
Da auch die Routiniers wie Andrea Eskau, Dorothee Vieth, Vico Merklein, Michael Teuber (alle Radsport), Heinrich Popow oder Birgit Kober (Leichtathletik) ihre Klasse wieder demonstrierten, muss sich die Deutsche Paralympische Mannschaft im immer umkämpfteren internationalen Kräftemessen nicht verstecken – auch wenn künftig Stars und Gesichter des deutschen Behindertensports wie Marianne Buggenhagen oder Heinrich Popow fehlen werden. Umbrüche wird es wohl ebenfalls bei den Sitzvolleyballern und den Rollstuhlbasketballerinnen geben, während sich bei den Goalballern eine junge und entwicklungsfähige Mannschaft gefunden hat, die über enormes Potenzial verfügt.
Weniger Grund zum Jubeln hatten diesmal die Schwimmer. Zwar schafften es 12 der 13 Athletinnen und Athleten von Bundestrainerin Ute Schinkitz ins Finale, doch sprang in der Gesamtabrechnung nur dreimal Edelmetall heraus. Zum einen wurden die angestrebten persönlichen Bestzeiten teilweise verpasst, zum anderen präsentierte sich die internationale Konkurrenz in starker Verfassung und hob das Niveau im paralympischen Schwimmen auf eine neue Stufe. Die Zeiten waren teils derart schnell, dass auch einige Fragezeichen dahinter stehen. „Da wird schon gemunkelt, ob diese Leistungen auf faire Art und Weise zustande gekommen sind“, gibt Karl Quade zu, fügt aber an: „Es ist schwer zu belegen.“ Dass auch im Behindertensport in Einzelfällen oder wie in Russland systematisch gedopt wird, ist längst kein Geheimnis mehr. „Wenn man in den Statistiken der Welt-Anti-Doping-Agentur sieht, in welchen Ländern wie geprüft wird, dann ist das schon sehr bedenklich. Ich bin der Auffassung, dass Länder, die kein funktionierendes Kontrollsystem nachweisen können, künftig nicht mehr antreten dürfen. Russland kann nur ein Anfang gewesen sein, wenn sich an der Situation nichts verbessert.“
So wie Quade eine Ausweitung der Dopingproben nach internationalen Standards fordert, pocht er auch auf eine Überprüfung der Klassifizierung gerade im Schwimmen – und das ausdrücklich vor den Spielen in Tokio 2020 und nicht erst danach. „Da besteht in einigen Fällen dringender Handlungsbedarf. Die Einstufung in die verschiedenen Startklassen muss fair und vergleichbar sein – und auch für den Zuschauer nachvollziehbar“, sagt Quade, der sich dahingehend ans IPC wenden will. „Ich halte es für grenzwertig, wenn wir in vier Jahren noch den gleichen Stand hätten wie jetzt. Das wäre gegenüber den Sportlerinnen und Sportlern nur schwer zu vermitteln. Das IPC hat da eine sehr hohe Verantwortung gegenüber den Athleten“, betont der Chef de Mission des deutschen Teams. Wenn beispielsweise in der Startklasse der Sehbehinderten plötzlich Schwimmerinnen aus Usbekistan auftauchen, die im Finale über acht Sekunden früher anschlagen als im Vorlauf und ihrem zuvor einzigen Auftritt im Behindertensport, lasse das schon Zweifel aufkommen – und sorge für Frust bei der Konkurrenz. „Unsere Sportlerin berichtet, dass die eine Usbekin ihre Akkreditierung nach dem Rennen trotz ihrer Sehbehinderung problemlos vom Tisch nehmen kann und die andere ein Handy offenbar auch ohne Lupenfunktion bedienen kann. Das stimmt schon nachdenklich“, erklärt Quade. So müssten auch hier Überprüfungen bekannter Fälle stattfinden und die Testverfahren weiter verbessert werden, um mögliche Betrugsversuche zu verhindern.
Abgesehen von den Problemen rund um Doping und Klassifizierung und des tragischen Todes des iranischen Radsportlers Bahman Golbarnezhad werden die ersten Paralympischen Spiele in Südamerika positiv in Erinnerung bleiben. Rio de Janeiro war mit all seiner Begeisterung für den Sport und den großartigen Leistungen ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg der paralympischen Bewegung. „Es war das erhoffte Signal in unserem Kampf für mehr Aufmerksamkeit. Es ist gelungen, die Faszination, die von diesen Spielen ausgeht, erneut zu transportieren. Daher sind wir zuversichtlich, dass wir diesen Schwung für die weitere Entwicklung des Behindertensports in Deutschland nutzen können – und damit auch mit Blick auf den Breitensport und unseren Nachwuchs“, sagt DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher und ergänzt: „Im Leistungssport ist es nun unsere Aufgabe, die Strukturen zu erweitern und zu verbessern sowie die nötigen finanziellen Mittel einzuwerben, um auch zukünftig im internationalen Kräftemessen wettbewerbsfähig zu bleiben.“ Das muss das große Ziel der Deutschen Paralympischen Mannschaft sein, die sich in Rio de Janeiro nicht nur sportlich erfolgreich, sondern auch erfrischend, authentisch und sympathisch präsentierte. Beucher: „Unsere Athletinnen und Athleten sind Vorbilder für Menschen mit und ohne Behinderung. Deswegen haben sie Aufmerksamkeit verdient – auch nach den Paralympics.“