Die Para Kanutin ist im Januar dieses Jahres Mutter geworden. Sieben Wochen später stieg sie wieder ins Training ein – für ihr großes Ziel: die Paralympics 2020. Bei den Weltmeisterschaften in Ungarn möchte sie sich einen Quotenplatz sichern.
„Dieser kleine Mensch“, sagt Edina Müller, „der hat unser Leben schon ganz schön verändert“. Die 36-Jährige schmunzelt. Seit Liam im Januar zur Welt kam, dreht sich im Leben der Hamburgerin natürlich alles um ihren Sohn. „Zum Glück ist er wirklich pflegeleicht“, fügt Müller an. Den Interviewtermin seiner Mutter meistert er mit links. „Wir kommen gerade vom Schwimmen, Liam ist ordentlich müde.“
Er hört zu, es stört ihn überhaupt nicht, dass jetzt mal nicht die Mama, sondern auch die Leistungssportlerin gefragt ist. Denn die hat große Ziele: Tokio 2020, Paralympics. Die Para Kanutin möchte im Einer Kajak dann unbedingt wieder dabei sein. So wie schon 2016 in Rio, als sie über die 200-Meter-Strecke Silber gewann. Für die Qualifikation müsste sie bei den Weltmeisterschaften in Ungarn, die vom 21. bis 24. August in Szeged stattfinden, unter die besten Sechs fahren. Damit hätte Müller ihre Startberechtigung sicher. Das ist ambitioniert, aber ihr Heimtrainer und Co-Trainer in der Nationalmannschaft, Arne Bandholz, traut ihr das zu: „Sie hat viele Skeptiker überrascht, und schnell wieder an alte Leistungen anknüpfen können.“ Für das nächste Jahr sehe er sogar noch Steigerungsmöglichkeiten.
Für den Trainer und seine Sportlerin ist das gerade eine spannende Zeit. Sohn Liam gibt mit seinen Bedürfnissen die Schlagzahl vor, und den Rahmen dessen, was an Training möglich ist. Drei Trainingslager mit der Nationalmannschaft hat die gebürtige Brühlerin bereits nach ihrer Babypause absolviert. Zweimal war ihre Mutter als Unterstützung dabei, zuletzt ihr Partner Niko. „Meine Trainer sind spitze, sie haben vollstes Verständnis und unterstützen mich, wo es geht“, sagt Müller, die allerdings nicht verhehlt, dass der Spagat zwischen Kind und Leistungssport auch an die Substanz geht. „Ich muss mit meinen Kräften haushalten. Ich stille noch, habe dazu kurze Nächte, das ist anstrengend. Aber ich bin ja nicht die erste Frau, die nach einer Geburt wieder in den Leistungssport einsteigt.“
Bisher gelingt ihr die Regeneration gut. Im Trainingslager vor der WM in Kienbaum ließ sie eine Einheit am Tag aus, konnte dafür die beiden anderen voll fahren. Zu Hause in Hamburg trainiert sie täglich auf dem Ergometer. Drei bis vier Einheiten auf der Alster kommen pro Woche dazu.
Bereits sieben Wochen nach der Geburt hat die 36-Jährige wieder mit dem Training begonnen. Schritt für Schritt arbeitete sie zunächst an ihrer Grundlagenausdauer, dann an der Kraft. Vorgaben gab es keine. Ihr Motto bis heute: Abwarten und in sich hineinhören, was körperlich möglich ist. „Ich hatte eine gute Schwangerschaft, war fit und habe lange trainieren können“, erklärt Müller. „Ich habe also nicht bei null angefangen.“ Ihre sieben Kilo, die sie zunahm, waren nach der Entbindung schnell weg.
„Sicher kamen bei mir einige gute Umstände zusammen.“
Auch die Geburt steckte sie gut weg. Liam wurde per Kaiserschnitt am 20. Januar geboren. Alles ist bestens verlaufen. Edina Müller managt und meistert ihr Leben ungeachtet ihrer Behinderung. „Ich bin überzeugt, dass es auch im Rollstuhl keine Grenzen gibt“ – das war und ist ihr Motto. Warum also nicht ein Kind bekommen? „Klar gibt es Leute, die das kritisch sehen und die uns das nicht zugetraut haben. Aber die kennen oft weder mich persönlich noch unser Leben. Ich muss ehrlich sagen: Ich bin schon ganz schön stolz auf uns“, entgegnet Müller. „Man muss sich trauen. Ich habe mir das alles schwieriger vorgestellt.“´
Die Wahl-Hamburgerin war 16 Jahre alt, als ihr Leben eine einschneidende Wendung nahm. Die ehemalige Volleyballerin ging mit Rückenschmerzen zum Arzt, weil sie sich einen Wirbel einrenken lassen wollte. Doch der Besuch blieb nicht ohne Folgen. Plötzlich waren die Beine taub, das Rückenmark wurde irreparabel geschädigt. Eine Operation kam zu spät. Ausbremsen kann der Rollstuhl die Athletin aber nicht. So positiv wie ihre Lebenseinstellung „Ich probiere alles aus, was ich eigentlich nicht kann“ – so entschlossen geht sie ihren Alltag als Mutter an.
Es gibt nichts, was unmöglich ist. Stolz teilte Müller unlängst über die sozialen Medien ein Foto, das sie beim Kinderwagen schieben zeigt. Von dem Rollstuhl-Hersteller Molab hat sie ein Smartwheel-Vorderrad mit Gepäckträger bekommen, auf dem sie ihre Babyschale befestigt hat. Zu Hause hat ihr Partner ihr einen niedrigen Wickeltisch gebaut, unter den sie mit dem Rollstuhl fahren kann. „Wenn der Alltag nicht so gut klappen würde, hätte ich sicher eine Pause eingelegt“, sagt sie.
Edina Müller ist ein Multitalent. 2012 gewann sie als Rollstuhl-Basketballerin Gold in London, vier Jahre zuvor paralympisches Silber. Aus persönlichen Gründen suchte sie danach eine neue Herausforderung. Ebenso erstaunlich wie erfolgreich gelang ihr 2014 der Wechsel vom Rollstuhl-Basketball zum Kanu. „Das war lange vorher schon unser Hobby. Mein Freund und ich wollten eigentlich in unserer Freizeit gemeinsam fahren“, erklärt Müller und fügt zwinkernd an: „Das hat leider nicht funktioniert.“
Sie war zu gut. 2016 wurde sie Welt- und Europameisterin, es folgte die Silbermedaille bei den Paralympics in Brasilien. Neben dem sportlichen Aspekt genieße sie auch den familiären Charakter. „Klar sitzt man allein im Boot, aber im Training fährst du mit anderen Kanuten und auf den Regatten ist das eine tolle Atmosphäre“, sagt Müller. Sobald man im Kanu sitze, gebe es auch keinen Unterschied mehr zwischen Sportlern mit und ohne Behinderung.
Mit solch einem Schubladendenken konnte die 36-Jährige ohnehin noch nie etwas anfangen. Auch im Privaten gibt es nichts, was sie nicht ausprobiert. In einem Blog gewährt sie Einblicke in ihr Leben, man sieht man sie beim Tauchen, außerdem gibt sie Menschen mit Behinderung Urlaubstipps oder erzählt von den Herausforderungen als Mutter im Rollstuhl.
Derzeit allerdings liegt ihr Fokus voll auf der Qualifikation für die Paralympics. Bei ihrem Arbeitgeber, dem BG Klinikum Hamburg, hat die Sporttherapeutin Elternzeit eingereicht. Das macht die Wettkampfplanung einfacher. Weil Liam noch nicht gerne Auto fährt, hat sie ihren Freund unlängst zu einem der Trainingslager in Ungarn allein mit dem Wagen vorgeschickt. Müller selbst nahm mit ihrem Kind den Nachtzug.
Besonderen Erfolgsdruck vor dieser WM verspüre sie nicht mehr, sagt sie. Die Prioritäten haben sich verschoben. „Vielleicht bin ich auch deshalb so schnell so fit geworden, weil ich entspannt und ohne Erwartungen an die Sache herangehe“, sagt Müller. „Klar möchte ich gerne nach Tokio, aber ich blicke auf eine erfolgreiche Karriere zurück. Es würde keine Welt mehr zusammenbrechen, wenn es nicht gelingt.“