Jochen Wollmert beim jubeln
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Nach 33 Jahren: Eine beeindruckende Ära klingt aus

„Held der Kindheit“ und „größter paralympischer Tischtennisspieler aller Zeiten“: Jochen Wollmert begeisterte nicht nur mit fulminanten Rückhandschlägen und einer schier endlos langen Liste an Erfolgen bei Paralympics, Welt- und Europameisterschaften, sondern auch mit Fair Play und großen Gesten. Nach über drei Jahrzehnten Leistungssport endet in diesem Jahr die Karriere des 57-jährigen Wuppertalers – zumindest auf der großen Bühne.

6 Minuten Lesezeit veröffentlicht am 01. Juni 2022

Paralympics in London 2012, über 6000 Zuschauer sind in der Halle zum Finale im Para Tischtennis der Wettkampfklasse 7: auf der einen Seite der alte Hase Jochen Wollmert, auf der anderen der über 20 Jahre jüngere und favorisierte Lokalmatador William Bayley. Nach einem packenden Match gewann Wollmert nicht nur seine fünfte Goldmedaille bei Paralympischen Spielen, sondern auch die Herzen der Zuschauer und später noch Fair-Play-Preise. Der Titel in London war der letzte ganz große Sieg eines großen Sportmannes, der in seiner langen Karriere viele magische Momente erleben durfte. Zehn Jahre später verabschiedet sich Wollmert nach und nach von der internationalen Bühne. Damit klingt eine beeindruckende Ära langsam aus.
 
Jochen Wollmert hat die Sportart Para Tischtennis in den vergangenen 33 Jahren geprägt, spielte 33 Jahre auf höchstem Niveau. Sein erstes großes Turnier war die Europameisterschaft 1989. Mit Doppel-Gold im Einzel und im Team sorgte er direkt für eine faustdicke Überraschung. Und das war nur der Auftakt. Die schier endlose Liste an Erfolgen besteht aus: fünfmal Gold, zweimal Silber und dreimal Bronze bei Paralympics, sechsmal Weltmeister, elfmal Europameister, 55 Titel bei deutschen Meisterschaften und ebensoviele Weltcup-Siege, elf Jahre die Nummer eins der Weltrangliste, sechsmal das Silberne Lorbeerblatt, Para Sportler des Jahres 2012, Gewinner des Fair-Play-Preises des Deutschen Sports, Auszeichnung mit dem Baron de Coubertin-Award und Mitglied der „Hall of Fame“ des Internationalen Tischtennis-Verbandes. „Da hat sich über die Jahre einiges angesammelt“, kommentiert Wollmert, der von Geburt an versteifte Fuß- und Handgelenke hat, mit einem Schmunzeln. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so erfolgreich sein würde.“
 
Bis auf die Europameisterschaften 2017 hat der inzwischen 57-Jährige alle großen Turniere gespielt in über drei Jahrzehnten, in denen er zum Kreis der Nationalmannschaft gehörte. Zugeflogen kamen ihm die Erfolge freilich nicht. „Das war nicht immer einfach als berufstätiger Familienvater. Ich habe überwiegend in Vollzeit gearbeitet und sechs Kinder, da braucht es ein gutes Zeitmanagement“, erklärt Wollmert mit einem Lachen und fügt hinzu: „Der Sport hat mir immer großen Spaß gemacht und war ein Ausgleich für mich, ansonsten hätte das nicht funkioniert. Im Training habe ich immer Vollgas gegeben und die Zeit so effektiv wie möglich genutzt. Meine Herangehensweise ist immer, dass ich das, was ich mache, auch richtig mache: entweder Engagement im Beruf, Zeit mit der Familie genießen oder eben im Sport alles geben. Dann macht es mir auch Freude, mich zu quälen.“
 
Ehrgeiz hat Jochen Wollmert seit jeher. „Ich bin bei meiner ersten EM schon vom Jäger zum Gejagten geworden. Das war für mich ein Ansporn, denn ich wollte unbedingt oben bleiben.“ Immer wieder bereitete sich der Wuppertaler akribisch auf die Höhepunkte vor und legte dank einer Kombination aus Talent, harter Arbeit und mentaler Stärke eine wahre Bilderbuch-Karriere hin. „An der Platte habe ich immer versucht, auf Angriff zu spielen und den Gegner unter Druck zu setzen. Bis zum Schluss habe ich um jeden Punkt gefightet.“ Emotional, ehrgeizig und ein Kämpfertyp – so hat sich Jochen Wollmert schon früh in die Weltspitze katapultiert und sich dort über drei Jahrzehnte gehalten.
 
Seine heutige Frau lernte Mr. Paralympics bei der Siegesfeier 2008 im Deutschen Haus in Peking kennen
 
Die größten Highlights waren dabei seine sieben Paralympics-Teilnahmen von Barcelona 1992 bis Rio 2016. Von seiner Premiere kehrte er damals mit zweimal Bronze zurück, vier Jahre später in Atlanta feierte Wollmert Gold im Team und Silber im Einzel. Das erste Gold im Einzel gelang 2000 in Sydney, diesen Erfolg wiederholte er 2008 in Peking. „Volle Halle, tolle Atmosphäre, das war sensationell. Dazu habe ich bei der Siegesfeier im Deutschen Haus auch meine heutige Frau Steffi kennengelernt und es hat sofort gefunkt“, berichtet der Wuppertaler. In London folgte 2012 erneut Gold im Einzel und seine letzte von insgesamt zehn paralympischen Medaillen. „Die Paralympics waren für mich immer das Größte, wie ein Virus. Für dieses Ziel habe ich den Aufwand und die Entbehrungen gerne in Kauf genommen. Es war alle vier Jahre aufs Neue großartig, dieses Fest gemeinsam mit der weltweiten paralympischen Familie erleben zu dürfen. Ich habe die Begegnungen und den Austausch mit Sportlern aus anderen Nationen immer sehr genossen“, erzählt Mr. Paralympics, der die Spiele in Tokio und damit seine achte Teilnahme nur knapp verpasste.
 
Es gibt nicht viele Athlet*innen in Deutschland und der Welt, die die Entwicklung der paralympischen Bewegung über einen so langen Zeitraum aktiv miterlebt haben. „Die Spiele haben im Laufe meiner Karriere eine ganz andere Dimension erlangt, sowohl sportlich als auch medial. Damals hatten wir wenige Honorartrainer, heute sind es sechs hauptamtliche Trainer. Auch international wird es immer professioneller. In Barcelona 1992 war nur ein deutsches TV-Team eines Gesundheitsmagazins vor Ort und musste sich noch Kameras in Spanien leihen, die die Geschwindigkeit der Wettkämpfe abbilden konnten, heute berichten die Sender mit zahlreichen Mitarbeitern über mehrere Stunden und teils live. Das ist schon eine tolle Entwicklung“, sagt Wollmert, der trotzdem noch Potenzial sieht: „Gerade die TV-Zeiten müssen noch besser werden. Die Paralympics sollten künftig auch in der Prime Time zu sehen sein, am besten schon 2024 in Paris. Das ist mein Wunsch für den Para Sport, damit noch mehr Menschen davon mitbekommen.“
 
Seine eigene leistungssportliche Karriere ist nun auf der Zielgeraden angekommen. Kürzlich spielte der 57-Jährige noch ein Turnier im slowenischen Lasko, schaffte es bis ins Viertelfinale und bezwang dabei auch Gegner, die in der Weltrangliste vor ihm stehen. Im Mixed-Wettbewerb schaffte er es gemeinsam mit Nationalmannschafts-Kollegin Stephanie Grebe auf Platz drei und im Doppel spielte er an der Seite von William Bayley und damit dem Kontrahenten, den er 2012 bei dessen Heimspiel in London im Finale besiegt hatte. Dieser widmete Jochen Wollmert im Anschluss einen emotionalen Beitrag bei Instagram mit den Worten: „Er ist mein Held, von meiner Kindheit an. Der größte paralympische Tischtennisspieler aller Zeiten.“ Große Worte für einen großen Sportler, der nicht nur mit fulminanten Rückhandschlägen begeisterte. Nicht ohne Grund: Bevor er seine Goldmedaille in London bejubelte, tröstete Wollmert zunächst den unterlegenen Lokalmatadoren und gewann dadurch neben dem Titel noch die Sympathien der Zuschauer.
 
„Fair Play sollte im Sport selbstverständlich sein – auch wenn es um Titel und Geld geht“
 
Mehrfach in seiner Karriere, auch im Halbfinale und im Endspiel der Paralympics in London, verzichtete er auf einen umstrittenen Punktgewinn zugunsten seiner Gegner. „So bin ich gestrickt. Mit Unfairness kann ich schlecht umgehen. Auch wenn es um Titel und Geld geht, möchte ich mit fairen Mitteln kämpfen“, sagt Wollmert. Besonders bezeichnend: Im fünften Satz des Halbfinal-Krimis 2012 machte sein Gegner einen Fehler beim Aufschlag, der laut Wollmert eindeutig auf die Behinderung zurückzuführen gewesen sei. Die Schiedsrichter gaben den Punkt zunächst dem Deutschen, der daraufhin intervenierte und bewirkte, dass die Angabe wiederholt wurde. Auch diese Geste war ein Grund für die Verleihung des Fair-Play-Preises des Deutschen Sports und des Baron de Coubertin-Awards, die weltweit höchste Würdigung für faires Verhalten im Sport. „Eigentlich ist es erstaunlich, dass es solche Preise überhaupt geben muss. Nach meiner Auffassung sollte das im Sport selbstverständlich sein. Doch es hat mich natürlich gefreut, vor allem der Coubertin-Award, den ich als erster Tischtennisspieler überhaupt bekommen habe“, erklärt der 57-Jährige.
 
Ein internationales Turnier wird Jochen Wollmert auf jeden Fall noch spielen. Am 2. Juni geht der Flieger Richtung Mexiko und damit an den Ort, an dem er auch zu einem seiner ersten großen Turniere antrat. „Ich will noch einmal die Atmosphäre aufsaugen und genießen. Und ein Podestplatz zum Abschluss wäre schon schön.“

Weh tut ihm der Abschied vom Leistungssport nicht, doch mit der neuen Situation wird er sich noch arrangieren müssen. „Für Langeweile werde ich aber auch dann keine Zeit haben“, berichtet Wollmert, der als Eventmanager bei einer großen deutschen Krankenkasse tätig ist und zudem Pate von „Jugend trainiert für Paralympics“ sowie vom Jugend-Länder-Cup der Deutschen Behindertensportjugend ist. „Ich möchte gerne meine Erfahrungen an die Jugend weitergeben und bin auch daran interessiert, mich in den Gremien des Sports einzubringen.“ Wo und wie genau, das werde sich zeigen. Fest steht dafür: „Ich werde weiter Tischtennis spielen, nur nicht mehr so häufig wie in den vergangenen Jahrzehnten.“ Und die Erinnerungen an großartige Erfolge, tolle Erlebnisse und unvergessliche Anekdoten werden so schnell nicht verblassen.