Paralympisch leben

„Der Junge hat Potential“

Zweite Weltmeisterschaft, zweite Medaille? Wenn am Montag die WM im Para Schwimmen in Manchester startet, peilt Maurice Wetekam genau das an. Auch wenn die bisherige Saison und Vorbereitung für den Schwimmer der SG Bayer nach eigenen Worten „durchwachsen“ verlaufen ist, betont der bodenständige und ehrgeizige 17-Jährige: „Mich sollte man noch nicht abschreiben!“
„Der Junge hat Potential“
Maurice Wetekam Foto: Ralf Kuckuck / DBS
16. Januar 2024

Im Ziel zieht sich Maurice Wetekam mit rechts schnell die Badekappe ab, blickt sofort nach links oben zum Monitor und zu den Zuschauerrängen, wo das deutsche Schwimmteam sitzt. Umgehend folgt die Gratulation an Stefano Raimondi, den Italiener, der direkt neben ihm auf Bahn drei soeben souverän die Goldmedaille über 100 Meter Brust in der Startklasse SB9 gewonnen hat. Und dann reißt Wetekam beide Arme vor Freude nach oben: Silber!

Der erste Wettkampftag der Para Schwimmer auf Madeira, der 12. Juli 2022, startete mit einem Knall – sowohl für das deutsche Team als auch für den damals 16 Jahre alten Schwimmer der SG Bayer, der auf der portugiesischen Insel an seiner ersten WM teilnahm. Als Vierter schlug der Vorlaufschnellste bei der Wende im Finale an. Auf den zweiten 50 Metern nahm der Dortmunder seinen Konkurrenten James Leroux aus Kanada und Tadeas Strasik aus Tschechien jeweils mehr als eineinhalb Sekunden ab. Die 1:10,02 Minuten im Ziel bedeuteten deutschen Rekord. Kein Wunder, dass Wetekam beim Verlassen des Wettkampfbeckens das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht weichen wollte.

„Das war die pure Freude“, blickt Wetekam, der dem Paralympicskader des Deutschen Behindertensportverbandes angehört, ein Jahr nach seinem gelungenen WM-Debüt auf sein Medaillen-Rennen zurück. Der Augenblick, in dem er realisierte, dass er soeben Silber gewonnen hatte, „den Moment habe ich mir in schwierigen Zeiten – also in Trainings- oder Verletzungszeiten – wieder hervorgehoben. Damit ich weiß, wofür ich kämpfe und dieses Gefühl wiederbekomme.“ Seit Madeira gab es viel zu kämpfen für Wetekam, der eine Dysmelie am linken Arm hat: „Direkt nach der WM hatte ich Corona, da ging nicht mehr viel. Ich konnte lange nicht auf dem Niveau schwimmen, auf dem ich eigentlich schwimmen wollte.“ Die ein oder andere Erkrankung funkte im vergangenen Jahr zusätzlich dazwischen.

Wetekam muss „konsequent an sich arbeiten“

Im Training schlug er oft nach 1:11, 1:12 oder auch 1:13 Minuten im Ziel an, statt sich seiner Final-Zeit von Madeira zu nähern. Kleineren, zusätzlichen Problemen an der rechten Bizepssehne und der Schulter wirkt Vanessa Göldner, die Physiotherapeutin der deutschen Para Schwimm-Nationalmannschaft entgegen, unter anderem mit gezieltem Athletikprogramm und physiktherapeutischen Maßnahmen. „Wir haben das alles im Griff, ich fühle mich gut“, sagt Wetekam. Bei den Finals in Berlin Anfang Juli untermauerte der Dortmunder das: Er schwamm die 100 Meter Brust, seine Paradedisziplin, in 1:09,44 Minuten.

Über diese Zeit freute sich auch die Bundestrainerin Ute Schinkitz: „Der Junge hat Potential.“ Dieses müsse aber auch in die richtigen Bahnen gelenkt werden, vor allem solle Wetekam weiter „konsequent an technischen Merkmalen arbeiten, die er von uns und seinen Heimtrainern bekommt. Er braucht den Fokus“, unterstreicht Schinkitz, die weiß: „Die Umstellung der Technik, das Optimum zu finden, wird nicht einfacher, wenn man älter wird.“ Je früher Wetekam dies lerne und verinnerliche, desto besser. Nicht nur bei der anstehenden WM in Manchester, sondern vor allem auch mit Blick auf die Paralympics in Paris im nächsten Jahr. Dass der 17 Jahre alte Schwimmer unter Tobias Heinrich in Dortmund inklusiv trainiert und zum vergangenen Schuljahr ans Sportinternat Dortmund gewechselt ist, freut die Bundestrainerin. „Dadurch bleibt viel mehr Zeit für die Schule und den Sport. Zudem ist es für die Regenerationszeit deutlich besser. Das sind alles Dinge, die in die richtige Richtung laufen.“ Wenn Wetekam es selbst wirklich wolle, „kann man ihn zu einem großen Schwimmer aufbauen“, ist sich die Bundestrainerin sicher.

Anschauungsunterricht bei Taliso Engel, Idole Sebastian Vettel und Phil Taylor

Den Spagat zwischen Schule und Sport bekommt der baldige Elftklässler nach eigenen Aussagen „sehr gut hin.“ Neben dem Schwimmen, wo sein Mannschaftskollege und Paralympics-Sieger Taliso Engel wegen dessen Entwicklung zu seinen Vorbildern zählt, verfolgt Wetekam seit Jahren die Formel 1. Vor allem der mittlerweile in den Ruhestand gegangene Sebastian Vettel hat es ihm angetan. Der viermalige Weltmeister „ist ein großes Idol von mir. Nicht nur das Sportliche, sondern auch sein Engagement, das er außerhalb davon an den Tag legt.“ Seit Jahren setzt sich Vettel für Umweltschutz und Nachhaltigkeit ein. Mit politischen Botschaften auf seiner Rennkleidung und seinen Rennboliden protestierte der Heppenheimer zudem immer wieder gegen Rassismus und Diskriminierung und für Gleichbehandlung, vor allem in Staaten, in welchen diese Grundrechte verletzt werden.

Eine weitere Leidenschaft: „Ich verfolge seit 2018 immer wieder Darts und spiele mittlerweile selbst ziemlich viel“, sagt Wetekam. Im Darts-Sport findet er vor allem Phil Taylor „sehr cool: Mit 16 gewonnenen Weltmeistertiteln ist er mit Abstand der erfolgreichste Spieler – er ist aber immer auf dem Boden geblieben. Er konnte auch bei Erfolgen anderer mitfiebern und sich freuen, hat sich nie für etwas Besseres gehalten. Das finde ich an ihm so bewundernswert.“

Traum und Ziel: eine Medaille bei den Paralympics

Bei den Weltmeisterschaften der Para Schwimmer in Manchester startet Maurice Wetekam ab dem 31. Juli neben den 100 Metern Brust auch über 200 Meter Lagen (SM9) und über 400 Meter Freistil (S9). Vor allem im Brustschwimmen möchte sich der Dortmunder „einfach wieder vernünftig präsentieren. Ich möchte zeigen, was ich wirklich kann. Dass man mich noch nicht abschreiben sollte.“ Weder bei der WM, auf die er sich aktuell komplett fokussiere, noch in Paris 2024. Das Ziel in Manchester und in Zukunft bei den Paralympics ist „auf jeden Fall eine Medaille. Aber solange ich mein Bestmögliches abrufen kann und alles gegeben habe“, dann wäre er auch mit einer guten Zeit und einer Platzierung außerhalb der Medaillenränge zufrieden. Dabei gilt immer zu berücksichtigen: Wetekam ist erst 17 Jahre alt, „ich habe noch Zeit, das alles zu erreichen.“

In Manchester wolle Wetekam „umsetzen, was ich im letzten Jahr gelernt habe.“ Zudem wolle er bei der WM eine Zeit unter 1:09 Minuten schwimmen. „Es wird schwierig, aber ich glaube, es ist machbar“, sagt der Silbermedaillen-Gewinner von Madeira. Neben der Vorfreude auf die Wettkämpfe, brennt der Dortmunder auch darauf, sich ein Souvenir aus Manchester mitzubringen: Ein Trikot soll es sein. Schließlich ist Wetekam großer Fan vom Fußball-Club Manchester City, dem in diesem Jahr das Triple aus Meisterschaft, Pokaltriumph und Champions-League-Sieg gelang.

Das Stadion seiner Lieblingskicker Erling Haaland, Phil Foden oder auch Jack Grealish, der nach dem Triple 48 Stunden durchgefeiert und -getrunken hatte, würde sich der 17-Jährige in Manchester auch gerne anschauen. Und wer weiß, vielleicht nimmt er sich neben einem Jersey der „Skyblues“ bei seiner zweiten WM zum zweiten Mal Edelmetall mit nach Dortmund. Grinsend sagt Maurice Wetekam: „Natürlich würde ich das ein bisschen feiern – aber nicht so wild wie Grealish.“

Text: Patrick Dirrigl / DBS