Paralympisch leben

Maike Naomi Schwarz: „Meine Lebensfreude zurückerkämpfen“

Die Paralympics in ihrem Geburtsland Japan musste Para Schwimmerin Maike Naomi Schwarz schweren Herzens absagen – Depressionen verhinderten ihren Start bei den Spielen. Doch die 29-jährige Athletin des SC Potsdam hat sich nach kräftezehrenden Jahren Schritt für Schritt zurückgekämpft. Kürzlich unterbot Schwarz in Berlin sogar die geforderte Norm und erfüllte damit die Grundlage, um sowohl an den Europameisterschaften Ende April auf Madeira als auch an den Paralympics in Paris teilnehmen zu können. Das sorgte für Freudentränen bei der sehbehinderten Schwimmerin, nachdem sie in den vergangenen sechs Jahren zumeist aus anderen Gründen geweint hatte.
Maike Naomi Schwarz: „Meine Lebensfreude zurückerkämpfen“
Maike Naomi Schwarz Foto: Uli Gasper / DBS
06. März 2024

„Ich habe mich noch nie so sehr über eine Norm gefreut wie diesmal“, berichtet Maike Naomi Schwarz (geb. Schnittger) von ihrer Gefühlsexplosion, als sie beim 25. Berolina Cup die 100 Meter Freistil in 1:02,60 Minuten schwamm und damit fast drei Zehntel unter der erforderlichen Zeit blieb. Auf einen Jubelschrei folgten glückliche Tränen. „Ich habe richtig geweint und mir sind so viele Steine vom Herzen gepurzelt. Es steckt so viel Arbeit dahinter und so viel Zeit, die ich investiert habe, um wieder Leistungssport machen zu können.“

Maike Naomi Schwarz – lange bekannt als lebensfrohe junge Frau, stets gut gelaunt, kommunikativ, voller Energie und Temperament. Doch ihr herzhaftes Lachen ist in den vergangenen sechs Jahren immer seltener geworden. Statt der Fröhlichkeit, die sie zumeist versprühte, dominierten Selbstzweifel, Ängste, Mutlosigkeit und Überforderung ihren Alltag. Dabei lief sportlich alles nach Plan. Nach Silber bei den Paralympics in Rio 2016 wurde sie ein Jahr später Doppel-Weltmeisterin, holte 2018 auch EM-Gold und schien sich in die Favoritenrolle aufzuschwingen für die Spiele 2020 in ihrem Geburtsland Japan. Ein Tattoo mit der Inschrift „Made in Japan“ ziert treffend ihren Unterarm. Eine Konstellation wie gemalt. Eigentlich. Denn die Träume zerplatzten. Schuld daran: Depressionen.


Facebook, April 2021: „Es fällt mir wahnsinnig schwer, das zu schreiben, aber ich habe mich entschieden, mich aus gesundheitlichen Gründen für eine Weile komplett zurückzuziehen. Mein Leben war in den letzten Jahren von vielen großartigen Momenten und Begegnungen gekennzeichnet, auch von vielen Erfolgen, aber die sonnige, immer positive Maike zu sein, die auch nach Rückschlägen immer wieder lächelnd aufsteht, hat enorm viel Kraft gekostet. Mehr Kraft, als ich wohl hatte.“

Es war nur noch ein paar Monate hin bis zu den Paralympischen Spielen in Tokio. Maike Naomi Schwarz war bei einem Wettkampf im niederländischen Eindhoven, schwamm sogar gute Zeiten und erlebte trotzdem im Hotelzimmer das, was wohl mit dem Wort Nervenzusammenbruch am treffendsten zu beschreiben ist. „Ich konnte einfach nicht mehr, war völlig am Ende. Mir ging es richtig dreckig. Ich habe so lange versucht, mich jeden Tag aufzurappeln, allen Rückschlägen zu trotzen, doch es ging dann nicht mehr. Ich habe mich lange genug gequält, musste die Reißleine ziehen und hätte das rückblickend besser schon früher gemacht“, berichtet Schwarz. Sie sei sehr traurig gewesen und es habe ihr das Herz gebrochen, dass es so gekommen sei. „Doch für Tokio hat die Kraft einfach nicht mehr gereicht.“

Wenige Täger später bekam sie schon einen Platz in einer Klinik, blieb dort für 18 Wochen. „Das war eine krasse Erfahrung, viereinhalb Monate sind echt eine lange Zeit. Es hat mir viel gebracht und es war sehr hilfreich, mit Menschen zusammen zu sein, die genau wussten, wie ich mich fühle, denen ich nicht alles erklären musste“, sagt sie. Während sie noch in der Klinik war, fanden in Tokio die Paralympics statt – für Schwarz sowohl örtlich als auch gedanklich meilenweit entfernt. Die Verschiebung der Spiele um ein Jahr als Folge der Corona-Pandemie bezeichnet sie als persönlichen Genickbruch. „Ich konnte nicht mehr länger kämpfen. Es wurde von Jahr zu Jahr schlimmer. Für viele kam die Nachricht zum Paralympics-Aus und meinen Depressionen aus dem Nichts, für meinen Mann und meine Familie war es irgendwann nur noch eine Frage der Zeit, bis ich an den Punkt komme, an dem ich mir selbst eingestehen muss, dass ich nicht mehr kann“, berichtet die 29-Jährige, die ursprünglich in Lashorst, einem kleinen Dorf in Ostwestfalen, aufgewachsen ist und mit 19 für den Leistungssport nach Potsdam zog.

Bereits seit 2018 befindet sie sich in therapeutischer Behandlung. Doch ein „Weiter so“ funktionierte nicht mehr, es brauchte einen Neustart. „Ich habe meinen Alltag nicht mehr hinbekommen, die einfachsten Dinge waren mir zu viel. Es hat sich einiges angestaut über die Jahre. Letztlich war es die Summe aus allem und ein paar Rückschläge zu viel“, sagt Schwarz. Bewusst hat sie die Entscheidung getroffen, die Gründe für das Paralympics-Aus und ihre Krankheit öffentlich zu machen. „Es ist immer noch ein sensibles Thema und es braucht noch mehr Hilfe und Ansprechpersonen für Betroffene. Mit Depressionen haben ganz viele andere Menschen zu kämpfen, deswegen wollte ich erzählen, warum ich Tokio verpasst habe.“


Facebook, September 2021: „Ich beginne nun eine ambulante Psychotherapie in Potsdam und hoffe, dass die wieder stärker gewordenen Gefühle von Traurigkeit, Unsicherheit, Einsamkeit und Verzweiflung nach und nach verschwinden werden. Das sportliche Ziel ist nach wie vor Paris 2024, an dem ich festhalte und an das ich fest glaube. Aber das ganz große Ziel ist ganz klar: gesund und glücklich zu werden.“

Die Wochen in der Klinik waren wichtig für Maike Naomi Schwarz. Verbunden hatte sie damit die Hoffnung, dass sie hier den Grundstein legt, um möglichst schnell wieder ihr altes Leben zurückzubekommen. Doch die Realität sah anders aus. „Es war danach ja nicht direkt alles gut. Ich bin erstmal in ein großes Loch gefallen und war noch lange nicht so stabil, wie ich es gerne gehabt hätte“, erklärt Schwarz. Hinzu kam, dass in der Klinik bei der physiotherapeutischen Behandlung auch die Ursache für ihre hartnäckigen Gelenkschmerzen entdeckt wurde, die sie seit längerer Zeit plagten: Rheuma. Das führt neben den Schmerzen auch zu Bewegungseinschränkungen. Schon jetzt hat sie Arthrose in den Händen und Füßen. Einmal in der Woche muss sie sich spritzen, dadurch hat sie die Beschwerden besser im Griff. Doch im Laufe des Lebens wird die Krankheit schlimmer werden, diese Gewissheit hat Schwarz. Ebenso die Tatsache, dass sich auch ihre Augen weiter verschlechtern werden.

„Das macht mir Angst, bereitet mir Sorgen. Ich weiß nicht, wo das enden wird und das verunsichert mich. Werde ich irgendwann gar nichts mehr sehen? Ist dann alles dunkel?“ Schon jetzt beträgt ihre Restsehkraft nur noch rund ein Prozent, im Alltag erhält sie seit einigen Jahren Unterstützung von Blindenführhund Jumper, den sie fest ins Herz geschlossen hat. Dass mit der rheumatoiden Arthritis eine weitere dauerhafte Erkrankung hinzukommt, die sie ihr Leben lang einschränken wird, belastet sie zusätzlich. „Ich will gar nicht so viel jammern, aber das ist schon echt hart. Diese doppelte Dosis hätte wirklich nicht sein müssen. Die Aufteilung ist doch nicht fair“, sagt die zweifache Paralympics-Teilnehmerin, die sich Ende 2022 auch noch den Fuß gebrochen hatte.

Facebook, April 2022: „Ich kämpfe immer noch täglich mit negativen Gedanken, großen Selbstzweifeln, Ängsten, einem Gefühl von Mutlosigkeit und bin in ,ungewohnten‘ Situationen total überfordert. Dementsprechend werde ich dieses Jahr auch leider bei keinen weiteren internationalen Wettkämpfen an den Start gehen, doch das ist nach wie vor kein Abschied, sondern nur wieder ein kleiner Schritt zurück.“

Die vergangenen sechs Jahre seien sehr schwer gewesen, sagt Maike Naomi Schwarz. Die vielen Rückschläge drohten sie zu erschlagen. Doch das Beeindruckende an der Athletin des SC Potsdam ist ihr großer Wille, immer wieder aufzustehen. Dabei geholfen hat ihr auch der Sport. „Ich habe gemerkt, dass mir die Ablenkung und die Bewegung guttun. Der Leistungssport hat mich anfangs noch überfordert, deswegen musste ich mich langsam herantasten.“ So wie sie sich auch im Alltag mit kleinen Schritten wieder zurechtfinden musste. „Die Krankheit“, sagt sie rückblickend, „hat mir das weggenommen, was ich so liebe: den Sport und die Lebensfreude. Doch ich bin dabei, mir das Stück für Stück wiederzuholen.“

Seit Sommer 2023 fühlt sie sich deutlich besser. Die 29-Jährige hat ihre Bachelorarbeit geschrieben und damit ihr Psychologie-Studium erfolgreich beendet. Sie war auf einem großen Konzert und ist wieder bei Schwimm-Wettkämpfen unterwegs. „Ich habe das Gefühl, dass ich meinen Alltag wieder im Griff habe. Ich brauche noch viel Ruhe, Routine und Rückzugsmöglichkeiten und ich bin auch noch nicht wieder die alte Maike, aber es entwickelt sich gut und wird nach und nach besser“, sagt Schwarz und fügt mit einem Lächeln an: „Ich bin noch nicht ganz über den Berg, aber auf einem guten Weg, um den Berg zu überwinden.“ Zur Seite stehen ihr dabei ihr Mann Carl Louis, ihre Familie und Freunde sowie die Nationalmannschaft, der Verein und der Deutsche Behindertensportverband als wichtige Stützen. „Wir haben so viel zusammen durchgestanden, dafür bin ich total dankbar, weil ich auch weiß, wie schwierig das für mein Umfeld ist.“


Facebook, Februar 2023: „Mir fällt ein großer Stein vom Herzen. Ich habe es geschafft, mich für die diesjährigen Europameisterschaften und die Paralympischen Spiele in Paris zu qualifizieren! Los geht's.“

Ein wichtiger Meilenstein war die erreichte Norm sowohl für die EM auf Madeira (21. bis 27. April) als auch für die Paralympics in Paris (28. August bis 8. September). „Ich bin super froh, dass mir das so früh in der Saison gelungen ist. Das erleichtert mich sehr und gibt mir Sicherheit. Die EM wird ein guter Testlauf, vieles ist wieder Neuland für mich, doch ich spüre, dass sich Körper und Geist langsam wieder an die Wettkämpfe erinnern“, erklärt Schwarz, die am Bundesstützpunkt in Potsdam bei Maik Zeh trainiert, mit einem Schmunzeln. Den Sport habe sie in all den Jahren nie als Problem gesehen. „Natürlich ist der Druck im Leistungssport groß, aber das hat mir nicht das Genick gebrochen. Das war die Summe aus allem.“ Deswegen hatte sie selbst in ihren schwierigen Phasen das Ziel Paris 2024 vor Augen, deswegen wollte sie unbedingt zurück.

Ihr Plan für die kommenden sechs Monate: „Ich werde so hart arbeiten, wie ich kann und dann lassen wir uns überraschen, ob ich bei den Spielen dabei bin und wozu es dann reicht. Wenn ich tatsächlich in Paris auf dem Startblock stehe, dann habe ich schon so unglaublich viel erreicht. Das wäre ein sensationelles Gefühl.“ Ehrgeizig sei sie trotzdem noch. „Am liebsten will ich immer die Schnellste sein, wenn ich ins Wasser springe, das hat sich nicht geändert. Aber ich kann gut einordnen, dass ich viel auf dem Buckel habe und mir Trainingszeit fehlt. Ich sehe es als Ehrenrunde. Alles, was ich in diesem Jahr an positiven Dingen erleben darf, nehme ich dankbar mit.“

Sollte Maike Naomi am 19. Juli offiziell für die Paralympics nominiert werden, könnte auf diese Traumreise eine weitere folgen. Denn nach Paris würde sie mit ihrem Mann Carl Louis zu gerne die Flitterwochen nachholen. Nach der Hochzeit im August 2020 war die Zeit nicht reif dafür. Doch sie hat gelernt, in kleinen Schritten zu denken und zu planen. Und sie weiß, dass sie geduldig mit sich selbst sein muss. Das Wichtigste ist, dass das selbsternannte Stehaufmännchen auf dem richtigen Weg ist. Der Weg nach vorne zu einer lebensfrohen Maike – gut gelaunt, kommunikativ, voller Energie und Temperament. Gesund und glücklich.

Text: Kevin Müller / DBS