Elena Krawzow mag Wasser eigentlich nicht. Ein Jahr vor den Paralympics in Tokio zählt die Schwimmerin aber zu den Hoffnungen im deutschen Team.
Diese Geschichte über Elena Krawzow beginnt auf dem Startblock. 100 Meter Brust, die Paradestrecke der Schwimmerin. Auf der Mitte der Distanz eine Wende. Elena Krawzow prüft ein letztes Mal den Sitz ihrer Brille, der Kappe. Als das Signal ertönt, springt sie der ganzen Länge nach ins Wasser und schiebt sich unter der Oberfläche ein weites Stück nach vorne. Nach dem Auftauchen fängt sie mit dem ersten Armzug an zu zählen. Eins.
Elena Krawzow leidet seit ihrem siebten Lebensjahr an Makuladystrophie, einer Erkrankung der Netzhaut. Heute, mit 25 Jahren, wird ihre Sehkraft auf weniger als drei Prozent bemessen. Für Krawzow führte diese Einschränkung schon zu mancher Kollision mit der Beckenkante. Deswegen das Zählen der Züge. Zwei. Drei. Vier. Es gibt ihr vor, wann es an der Zeit ist, sich auf die Wende einzustellen. Auf den ersten 50 Metern Brust sind es 18 Armzüge, auf dem Weg zurück 22 oder 23, je nachdem wie flüssig ihr die Drehung gelingt.
Hätte Elena Krawzow frei entscheiden können, sie wäre im Leben nicht Leistungsschwimmerin geworden. Und das liegt nicht an ihrer Erkrankung. „Ich bin noch nie gerne ins Wasser gegangen“, sagt sie an einem Tag im August und meint das ernst: „Ich bin heute noch froh, wenn ich aus dem Wasser wieder rauskann.“ Es ist so, als würde Sebastian Vettel nicht gerne im Auto sitzen. Oder als würde Toni Kroos den Rasen nicht leiden können. Wie ist es also möglich, dass es Elena Krawzow zu Weltrekorden gebracht hat und in drei Wochen bei den Para-Schwimmweltmeisterschaften in London als die große Favoritin gilt?
„Daran ist eigentlich nur der Michi schuld“, sagt Krawzow. Der Michi, das ist Michael Heuer. Er brachte ihr mit 13 Jahren das Schwimmen bei und gilt als ihr Entdecker. Aber so weit sind wir in dieser Geschichte noch nicht.
Fünf. Sechs. Sieben. Acht. Geboren wird Elena Krawzow 1993 in Kasachstan, in einem winzigen Dorf an der Grenze zu Kirgisistan. Nach dem Zerfall der Sowjetunion geht es der Familie zunehmend schlechter. Der Vater kommt nach der Arbeit mit einem Stück Butter heim, Geld hat es wieder keines gegeben. Tage verstreichen, an denen es für Elena und ihre Geschwister nur ein Glas Tee zum Frühstück gibt. Das einst so lebensfrohe Land ihres Vaters schlägt auf den Magen. Neun. Zehn.
Die Krawzows wollen weg, die Großmutter ist Deutsche, aber das mit den Papieren zieht sich jetzt schon ein paar Jahre hin. Sie gehen nach Russland, das Land von Elenas Mutter. Nächtelang warten sie am Bahnhof auf den Vater, bis er eine Bleibe gefunden hat. Es geht voran. Elf. Zwölf. Bis Elena in der Schule die Augen zusammenkneift und beim Schreiben die Linie nicht mehr trifft. Die Lehrer wenden sich an die Eltern: Ihre Tochter muss ins Internat. Es ist die Hölle für das kleine Mädchen.
Nach drei Jahren der Anruf aus Deutschland. Mit dem Bus reist die Familie aus Moskau in eine neue Zukunft nach Bamberg. Elena geht in die vierte Klasse einer Grundschule und bekommt die Arbeitsblätter stark vergrößert ausgedruckt. In der fünften Klasse verliert sie den Anschluss, „meine Noten waren unterirdisch“, erinnert sie sich. Wieder muss sie auf ein Internat, dieses Mal nach Nürnberg. Dreizehn. Vierzehn. Fünfzehn. „Für mich war das schrecklich: Ich war neu in Deutschland, konnte die Sprache nicht richtig - aber ich hatte keine Wahl.“
In Nürnberg traut sich Elena nicht aus dem Zimmer. Immer wieder fließen die Tränen, finden die Erzieher sie vor der Türe, sie warte auf ihren Vater, dass er sie abhole, schluchzt sie dann. Aber ihr Vater kommt nicht. Stattdessen steht da plötzlich dieser freundliche Mann aus dem Freizeitzentrum und lädt sie zum Kartenspielen ein. Elena trumpft beim Uno-Spielen groß auf. Michael Heuer, „der Michi“, wie Elena den Erzieher heute nennt, war beeindruckt: „Die Elena“, wie er sie heute nennt, die hat richtig was auf dem Kasten, denkt er: „Und fit ist sie auch. Mensch, die holste dir zum Sport.“
Sportabzeichen mit dem Michi. Der Elena gibt die Bewegung und der Zuspruch Auftrieb. Als letzte Disziplin kommt es zum Schwimmen, und die damals 13 Jahre alte Elena denkt: „Ich kann doch gar nicht schwimmen.“ Sie soll es trotzdem versuchen. Auf der internatseigenen 16-Meter-Bahn paddelt sie dreimal hin und her. Sie sagt heute: „Wie ein Hund“. Heuer meint: „So schlimm war das gar nicht“. Er macht das Angebot, ihr richtig schwimmen beizubringen. Elena schlägt ein.
Sechzehn. Siebzehn. Achtzehn. In dieser Geschichte über Elena Krawzow ist es nun an der Zeit für die Wende. Kopf nach unten, mit gestreckten Armen und Beinen schlägt sie an, zieht die Knie unter den Bauch und dreht sich mit einem Schwung über die linke Seite und stößt sich zurück auf die Bahn. Eins. Zwei. Drei.
„Ich könnte ein ganzes Buch schreiben“, sagt Michael Heuer über die gemeinsame Zeit. „Das sind Beziehungen zwischen Menschen, die hat man nur einmal im Leben. Ich spreche einerseits von Glück - und andererseits von Verpflichtung.“ Was damals in Nürnberg entsteht, ist der Anfang einer beeindruckenden Sportlerkarriere. Vier. Fünf. Sechs. Sieben. Zusammen mit der Tochter des Hausmeisters bringt Heuer der Elena in dem 16-Meter-Becken die verschiedenen Schwimmstile bei. Nach drei Jahren fährt er sie zum Schwimmverein nach Altenfurt. Elenas späterer Trainer Günter Zirkelbach will nach der ersten Stunde ihr Längenverhältnis sehen, sie soll die Arme ausbreiten. „Boah, hat die Flügel“, soll er gestaunt haben. Acht. Neun. Zehn. Elf. Zwölf.
Mit den ersten Wettbewerben folgen auch die ersten Erfolge. Elena Krawzow gehört bald zu den Schnellsten ihrer Startklasse und erreicht verlässlich die Medaillenränge. Von den fränkischen Meisterschaften geht es zu den deutschen Meisterschaften. Kirsten Bruhn flüstert ihr bei einer Siegerehrung zu, aus ihr könne mal was werden. Der Zuspruch der Para- Schwimm-Legende lässt Krawzow plötzlich an etwas glauben. Dreizehn. Vierzehn. Fünfzehn. Sechzehn. Sie sieht die Athleten der deutschen Mannschaft in ihren Trainingsanzügen und will auch dazugehören. „Ich glaube, nur aus diesem Grund wollte ich das so richtig machen, dass ich dadurch um die Welt komme, ich saß ja bis dahin noch nie in einem Flugzeug“, sagt Krawzow heute. Siebzehn. Achtzehn. Neunzehn. Zwanzig.
Nach einigen WM-Titeln als Juniorin feiert sie ihren größten Erfolg 2012 in London, vor den Augen von Michael Heuer schwimmt sie bei den Paralympics völlig überraschend zu Silber. Und das soll erst der Anfang gewesen sein. In den kommenden vier Jahren - parallel zu ihrer Ausbildung zur Physiotherapeutin - trainiert sie voll auf Gold.
Ein Jahr vor den Paralympics in Rio de Janeiro 2016 zieht sie dann von Nürnberg nach Berlin und schwimmt seitdem am Olympiastützpunkt für das Berliner Schwimmteam. Kurz vor den Spielen knackt sie zum ersten Mal einen Weltrekord. Ihr Umfeld rechnet nun fest mit der Krönung. Sie selbst auch. Einundzwanzig. Zweiundzwanzig. Dreiundzwanzig. Lassen wir Elena Krawzow in dieser Geschichte die 100 Meter Brust also in Rio beenden. Denn dieses Ende soll ein neuer Start sein: Bei den Paralympics schlägt die große Favoritin nur als Fünfte an. Härter kann es die bis dahin erfolgsverwöhnte Schwimmerin nicht treffen.
Elena Krawzow, damals 22 Jahre jung, schämt sich für ihre Leistung. „Ich habe ziemlich lange gebraucht, um aus diesem Loch wieder rauszukommen. Es war eine schwierige Zeit, vor allem, wenn man nie richtig gelernt hat, wie das ist, zu verlieren“, sagt sie heute. Im Training geht erst einmal gar nichts mehr. Die Enttäuschung zieht sie buchstäblich runter, sie kommt im Wasser kaum von der Stelle. Es braucht beinahe zwei Saisons, ehe sie wieder an Leichtigkeit gewinnt.
„Ich habe irgendwann zu mir gesagt: Also, du kannst jetzt einfach aufhören oder du startest noch mal voll durch. Und diese letzte Chance, die ich jetzt vielleicht noch einmal habe, die wollte ich einfach dafür nutzen, um mir selbst zu beweisen, dass ich es kann - und dass ich es eigentlich schon immer wollte, für mich, und nicht weil mir das irgendjemand gesagt hat. Einfach nur für mich.“
Vielleicht war diese Niederlage von Rio genau richtig. So etwas sagt man dann eben drei Jahre später. Im Falle von Elena Krawzow scheint es heute aber zu stimmen. Es wirkt rückblickend wie das Finish eines Lebensabschnitts. Einer Zeit der gefühlten Fremdbestimmung über den eigenen Körper und das eigene Leben.
Elena, die das Wasser nicht mag und so leicht friert. Elena, die sich an vielen Morgen doch einfach nur wünschte, ein ganz normales Mädchen sein zu dürfen. „Ich habe mir früher so viele Dinge verboten und mich selbst eigentlich immer total bestraft, wenn ich was falsch gemacht habe“, erzählt sie. „Aber ab jetzt mache ich das im Reinen mit mir. Und ich muss sagen, seitdem ich das mehr genießen kann, läuft alles viel, viel besser als früher.“
Zu dieser Freiheit gehört es heute auch, zwischen den Weltrekorden, die sie zurzeit in Serie aufstellt, mal durchzudrehen. „Und den Kopf freizubekommen, heißt für mich einfach nur: ab in den Technoclub.“ In solch einer Nacht kann es dann schon mal passieren, dass sie ihre Freunde nicht wiederfindet und allein zurückbleibt. Elena Krawzow, die ihr halbes Leben im Wasser verbracht hat, obwohl sie das Wasser gar nicht mag, taucht dann einfach wieder ab in der tanzenden Menge.