Es dauert lange, bis man ein richtig guter Kugelstoßer wird. Beinahe hätte unser Autor aufgegeben - doch dann gelingt ihm der große Coup bei den Paralympics
Sport bedeutet Leidenschaft, harte Arbeit - und Verzicht. In unserer Serie erzählen Athleten ganz persönlich, wie viel Kraft das kostet und was sie für ihre Sportart auf sich nehmen.
Im Sport bekommt jeder seinen Spitznamen verpasst. Da kommt man eigentlich gar nicht drumherum. Oft geht es nach dem Nachnamen. Oder nach einer persönlichen Eigenart. Ich kenne eine Killerstelze, einen Monkey und einen Urmel. Ich selbst werde Bonsai gerufen, was an meiner Körpergröße liegt. Ich bin kleinwüchsig und messe mit meinen 24 Jahren gerade einmal 1,40 Meter. Von Beruf bin ich Kugelstoßer, und hier erzähle ich meine Geschichte.
Ich hatte mit meiner Beeinträchtigung nie ein Problem. Meine Eltern haben mich wie einen ganz normalen Jungen großgezogen. Oder vielleicht sollte ich besser sagen: aufgezogen. Aber Scherz beiseite. Meine Eltern haben nie eine besondere Rücksicht auf meine Größe genommen. Und so tat ich das dann selbst auch nicht. Ich stürzte mich hinein in das Leben, so mache ich das bis heute.
Der Sport ist dabei für mich schon in meiner Kindheit zu einem sehr wichtigen Raum geworden, in dem ich mich voll entfalten konnte. Dort holte ich mir die Anerkennung, tankte Selbstvertrauen, verdiente mir Freundschaften. Los ging das mit dem Fußballspielen in unserem Dorfverein. Beim Training und in den Spielen konnte ich so sein wie die anderen, ganz normal eben. Vielleicht gab es da diese Besonderheit an mir - aber die hat doch eigentlich jeder andere Mensch auf seine ihm eigene Art und Weise auch.
Dass mir meine Beeinträchtigung mal so richtig was bringen könnte, davon bekam ich 2008 was mit. Der ebenfalls kleinwüchsige Mathias Mester hatte bei den Paralympics in Peking gerade für Deutschland die Silbermedaille im Kugelstoßen geholt. Als ich davon hörte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Es gab da einen Wettbewerb, in dem sich allein Kleinwüchsige miteinander messen konnten? Kleinwüchsige aus der ganzen Welt? Mein Ehrgeiz fing Feuer.
Ich suchte mir die Adresse vom Württembergischen Behindertensportverband raus und schrieb eine E-Mail an Gaby Rothfuß: Hallo, ich bin kleinwüchsig und 13 Jahre alt, was muss ich tun, um an den Paralympics teilnehmen zu können? Ich brauchte nicht lange auf eine Antwort zu warten: Ich solle einfach mal anfangen zu trainieren, und dann könne ich bald zu einem Wettkampf kommen.
Anfang 2009 ging ich dann zum örtlichen Sportverein bei uns in Welzheim und begann in der ganz normalen Leichtathletikabteilung mit dem Kugelstoßen. Und ich war gar nicht schlecht! Ende 2010 schaffte ich bereits die Norm für den Bundeskader des Behindertensportverbands und wurde zur Junioren-Weltmeisterschaft geschickt. Da bekam ich dann aber richtig einen auf den Deckel, meine 7,95 Meter konterte der Pole Bartosz Tyszkowski, der bis heute mein ärgster Konkurrent geblieben ist, mit neuem Jugendweltrekord von 12,44 Meter.
Es spornte mich nur mehr an. In den nächsten zwei Jahren machte ich weiter meine Fortschritte und galt im deutschen Team bald als Nachwuchshoffnung. Bei den Paralympics in London nahm ich 2012 am Jugendlager teil, organisiert vom Verband, und erlebte die Wettkämpfe von der Tribüne aus. Es hielt mich kaum auf dem Sitz! Ich wollte da auch runter, nichts wollte ich in diesen Momenten mehr: Mir meine Kugel schnappen und endlich der ganzen Welt zeigen, was in mir steckt.
Wieder zu Hause in Welzheim wartete jedoch die Krise. Meine Leistungen begannen zu stagnieren und die Ungeduld wuchs. Mir war bald die Lust vergangen auf das tägliche Training. Wofür denn auch, wenn ich mich gar nicht mehr verbesserte? Ich wollte unbedingt zu diesen verdammten Paralympics. Aber es schien nicht zu reichen. Andere Dinge begannen wichtiger für mich zu werden.
2014 beendete ich meine Lehre zum Bankkaufmann und war das erste Mal verliebt. Brauchte ich den Sport denn wirklich noch zum Glücklichsein? All die Schufterei? Den Verzicht? Ich wollte zu meiner Freundin, an nichts anderes konnte ich während des Trainings noch denken. Am Ende der Saison rief ich die Bundestrainerin an und teilte ihr meinen Entschluss mit.
Sie hörte mir gar nicht zu. Stattdessen kam sie mir mit der Idee, dass ich aus meinem Ortsverein in die Gruppe von Peter Salzer nach Stuttgart wechseln solle. Und das war ich mir selbst einfach noch schuldig gewesen, als allerletzten Versuch sozusagen: Im Kugelstoßen war Salzer der Trainer schlechthin, eine Koryphäe. Dass mich seine Trainingsgruppe dann als Para-Sportler bei sich aufnahm, war damals gar nicht so selbstverständlich.
Peter stellte mein Training von der Angleittechnik auf die Drehstoßvariante um. Und die Fortschritte waren kaum zu glauben: Innerhalb von einem Jahr verbesserte ich mich um mehr als zwei Meter und stand plötzlich auf Weltranglistenplatz zwei. Gemeinsam fuhren wir zu den Paralympics nach Rio - und was da passieren sollte, glich für mich einem Märchen.
Als ich die Kugel beim letzten Stoß losließ, da spürte ich bereits, dass es an diesem Abend das ganz große Ding werden würde. Wenn die schwere Kugel plötzlich ganz leicht erscheint, dann fliegt sie auch am weitesten. Die Erinnerungen an die Momente danach überwältigen mich noch heute: Gold! Gold, Gold, Gold! Träumte ich das alles? Konnte mich mal bitte jemand kneifen? Ich hätte platzen können! Die Interviews in der Mixed Zone, die Feier im Deutschen Haus, Rio am nächsten Tag, die E-Mail von Markus Lanz, der mich in seine Show einlud. Unglaublich. Ich hatte zu der Zeit noch nicht mal einen Berater. Von da an ging es dann richtig los. Und hält ja bis heute an.
Seit 2018 bin ich nun bei der Volksbank in Welzheim freigestellt und kann mich Profisportler nennen, finanziert von einigen Sponsoren und über die Sportförderung der Bundeswehr. Meinem Konto merkt man diese Umstellung kaum an. Mein ganzer Tagesablauf ist aber dafür nun ganz dem Kugelstoßen untergeordnet, ich denke die ganze Zeit an nichts anderes. Na gut, an meine Freundin selbstverständlich auch noch.
Ich trainiere jeden Tag. Und mittlerweile ist jeder einzelne Stoß wichtig. Zu dem Polen, mit dem ich mich seit der Jugend-WM duelliere und mit dem ich mich bis heute um den aktuellen Weltrekord streite, sind noch ein Brite und ein Ami gestoßen, die plötzlich auch an unsere Weiten herankommen. Ich muss da jetzt immer einen Schritt voraus sein.
Mein Traum als Sportler wäre es natürlich, irgendwann einmal so weit zu stoßen wie es nur geht. Denn genau das frage ich mich ja ständig: Wie weit geht es noch? Wann ist das absolute Maximum erreicht, das ich aus meinem Körper herausholen kann? Und ist das dann womöglich die Marke für die Ewigkeit, an der sich die Konkurrenz die Zähne ausbeißen wird?
Insgeheim hoffe ich aber, dass dieser Tag nie kommen mag. Was hieße das denn auch, wenn man irgendwann nicht mehr wüsste, wie man sich noch verbessern kann? Für mich als Leistungssportler wäre es wohl das Ende.
Niko Kappel, 24, gehört zu den bekanntesten Athleten im deutschen Para-Sport. Der gelernte Bankkaufmann konzentriert sich seit 2018 ausschließlich auf seine Karriere als Leistungssportler